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Jüdische Gemeinden alarmiert "Einige fürchten einen Pogrom in Deutschland"

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Die Polizei hat den Schutz jüdischer Einrichtungen noch einmal erhöht.

Die Polizei hat den Schutz jüdischer Einrichtungen noch einmal erhöht.

(Foto: picture alliance/dpa)

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hat sich auch in Deutschland die Bedrohungslage deutlich verschärft. Immer wieder kommt es zu antisemitischen Hassparolen und Übergriffen - jüngst wird eine Synagoge in Berlin attackiert. Für viele Juden ist ein normaler Alltag damit unvorstellbar.

In Berlin wird eine Synagoge mit Molotowcocktails und ein hebräisch sprechendes Paar mit Feuerwerk attackiert. Aufgemalte Davidsterne prangen an Häusern von Jüdinnen und Juden und plakatgroße "Fuck Israel"-Schriftzüge auf Bürgersteigen. Immer wieder skandieren Menschengruppen antisemitische Hassparolen auf pro-palästinensischen Demonstrationen - nicht nur in Berlin, auch in Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Bayern. In vielen Gemeinden werden aus Solidarität gehisste Israel-Flaggen gestohlen und verbrannt. Und während Jüdinnen und Juden auf offener Straße angepöbelt werden, ruft die Terrororganisation Hamas weltweit zur Gewalt gegen sie auf.

Seit dem Großangriff der Hamas auf Israel hat sich auch die Bedrohungslage für Jüdinnen und Juden in Deutschland deutlich verschärft. Das zeigen nicht nur die Vorfälle der vergangenen Tage, das bestätigt auch das Bundeskriminalamt (BKA) in einem internen Lagebericht. So rechnen die Ermittler mit einer Protestwelle gegen jüdische Einrichtungen und Synagogen. Dabei gebe es zwar noch keine Aufrufe zu Anschlägen in Deutschland, heißt es weiter. Allerdings sei nicht ausgeschlossen, dass die Hetze der Hamas der Auslöser für "Gewalttaten gegen israelische Ziele in Deutschland" sein könnte.

Jüdinnen und Juden befinden sich damit seit eineinhalb Wochen in Alarmbereitschaft. "Unsere Mitglieder sind zutiefst verunsichert", sagt Oded Horowitz im Gespräch mit ntv.de. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf berichtet von Angstzuständen in seiner Gemeinde und vielen besorgten Anrufen in den vergangenen Tagen. "Einige fürchten einen Pogrom in Deutschland und fragen uns, wer sie schützen könnte."

"Es ist nicht leicht, sich sicher zu fühlen"

Immer wieder werde er nach Ärztinnen und Ärzten gefragt, die Mittel zur Beruhigung verschreiben könnten. Zudem wisse er von einer Austauschgruppe aus Tel Aviv, die sich "kaum noch traut, sich in der Uni zu bewegen". Besonders schlimm sei die Sorge am vergangenen Freitag gewesen, sagt Horowitz. Die Hamas hatte für diesen Tag zu Gewalt gegen jüdisches Leben aufgerufen. Viele Eltern haben ihre Kinder lieber zu Hause behalten, statt sie in den jüdischen Kindergarten zu schicken.

"Einige Gemeindemitglieder überlegen auch, ob sie jüdische Symbole von Türen und Fenstern entfernen", berichtet ihr Vorsitzender weiter. Denn obwohl die Polizei in Nordrhein-Westfalen ihre Sicherheitsvorkehrungen hochgefahren hat, bleibe ein ungutes Gefühl. "Es ist nicht leicht, sich sicher zu fühlen, wenn man nicht weiß, ob man gefahrlos zum Supermarkt gehen kann", erklärt Horowitz. Denn die Beamten können eben nicht überall sein, zu Attacken könnte es immer und überall kommen.

Horowitz weist auf jene Menschen hin, die die Ermordung von Jüdinnen und Juden mit Süßigkeiten auf der Berliner Sonnenallee feierten. Die Szenen zeigten, dass "jüdisches Leben für einige nicht viel wert" sei. "Das führt bei vielen zu schrecklichem Kopfkino." Er selbst sei eigentlich ein entspannter Mensch, sagt der Gemeinde-Vorsitzende und fügt hinzu: "Aber jetzt muss ich zugeben, ich mache mir wirklich Sorgen."

Berliner Synagoge attackiert

Wie den Düsseldorfern Gemeindemitgliedern geht es derzeit vielen Jüdinnen und Juden in Deutschland. So haben sich die Anrufe bei der Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung (OFEK) seit dem Terrorangriff verdoppelt, wie ihre Leiterin, Marina Chernivsky, der Deutschen Presse-Agentur berichtete. Die Organisation arbeite derzeit im "Krisenmodus". Meistens haben die Anrufer psychische und verbale Gewalt erlebt, einige berichten von Hass im Netz. Allerdings sei es im Rahmen von Demonstrationen auch schon zu körperlichen Übergriffen gekommen.

Besonders prekär ist die Situation in Berlin. Mehr als 30 antisemitische Vorfälle zählt die Dokumentationsstelle für Antisemitismus (RIAS) in der Hauptstadt seit dem Terrorangriff auf Israel, wie die "taz" berichtet. So gibt es Ecken in der Hauptstadt, an denen man an Israelhass kaum vorbeikommt: Hausfassaden sind gespickt mit antisemitischen Parolen, immer wieder kommt es zu Hassparolen auf verbotenen Versammlungen und gleich mehrfach wurden Wohnungen von Jüdinnen und Juden mit dem Davidstern markiert.

Schließlich eskalierte die Situation in Berlin jüngst gleich zweimal: In Neukölln warf ein Mann Feuerwerkskörper auf ein Paar und gab später an, dass sich die beiden auf Hebräisch unterhalten hätten. Nur wenige Stunden später flogen zwei Molotowcocktails in Richtung eines Gebäudes, in dem sich diverse jüdische Einrichtungen befinden - darunter auch eine Synagoge. Da die mit brennender Flüssigkeit gefüllten Flaschen die Einrichtung verfehlten, wurde niemand verletzt. Allerdings sind die Täter weiter auf freiem Fuß, die Polizei konnte sie nicht stellen.

Berliner Juden unter Dauerbelastung

Für die Berliner Jüdinnen und Juden bedeutet das Dauerstress. "Wir sind alle 24 Stunden am Tag mit den Folgen des Überfalls der Hamas auf Israel befasst", erklärt Ilan Kiesling von der jüdischen Gemeinde in der Hauptstadt im Gespräch mit ntv.de. "Es sind bewegte, harte Zeiten." So sei die Verunsicherung innerhalb der Gemeinde groß. Eltern wollen ganz genau über die Sicherheitsvorkehrungen an den jüdischen Kindergärten und Schulen informiert werden und am vergangenen Freitag blieben die Einrichtungen fast leer.

Dabei seien die jüdischen Kinder- und Jugendeinrichtungen seit Langem "mit die sichersten Orte der Stadt", betont Kiesling. Insgesamt gelte für jüdische Einrichtungen nicht erst seit dem Angriff der Hamas eine erhöhte Sicherheitsstufe. Die Gemeinde habe eine eigene Sicherheitsabteilung, ein großer Teil des Etats gehe dafür drauf. "Unsere Mitglieder haben sich daran gewöhnt, dass das Gemeindeleben quasi hinter Schutzzäunen und Überwachungskameras stattfindet", sagt Kiesling.

Die eigenen Maßnahmen seien eng mit der Berliner Polizei und dem Landeskriminalamt verknüpft. Auch in der jetzigen Belastungssituation laufe die Zusammenarbeit gut, sagt der Gemeindesprecher. Vor allem seien die Bemühungen der Behörden, israelfeindliche und antisemitische Aktionen konsequent zu verhindern, "eine spürbare Verbesserung im Vergleich zu vor wenigen Jahren".

Polizeiarbeit wirkt

Tatsächlich entfernen die Beamten ununterbrochen judenfeindliche Hassparolen von Wänden und Bürgersteigen. Sie fahnden nach den Verursachern, konfiszieren israelfeindliche Symbole und kontrollieren Menschenansammlungen an einschlägigen Plätzen. "Es sind die schwierigsten Zeiten bisher in meiner Amtszeit", sagte Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik Mitte vergangene Woche. Allerdings gelten diese Maßnahmen nicht nur für Berlin - in ganz Deutschland konzentrieren sich die Beamten darauf, antisemitische Aktionen im Keim zu ersticken. Zudem verkündete das BKA, den Schutz jüdischer Einrichtungen in allen 16 Bundesländern noch einmal zu erhöhen.

"Ich kann der Münchner Polizei und unseren sehr engagierten Mitarbeitern nur meinen großen Dank aussprechen", betont Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in München, im Gespräch mit ntv.de. So zeigen die enormen Kraftanstrengungen der Behörden durchaus Wirkung: Die Gemeindemitglieder in Bayern fühlen sich geschützt, die Sicherheitslage in München ist, zumindest im Moment, ruhig, wie Knobloch berichtet.

Trotzdem ist die Stimmung auch in München deutlich angespannter. Die Bilder aus Israel waren ein Schock, sagt Knobloch, nach der Hamas-Drohung blieben viele Kinder und Schüler am vergangenen Freitag zu Hause. Die jüdische Gemeinde rät ihren Mitgliedern, die Israelfahne in der Nähe pro-palästinensischer Demonstrationen nicht zu deutlich zu zeigen. "Wir müssen ansonsten von einer gewissen Gefährdung ausgehen", sagt die Gemeinde-Vorsitzende.

"Nichts daran ist normal"

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Knobloch ist sich sicher, dass viele Jüdinnen und Juden seit dem Terrorangriff noch einmal vorsichtiger geworden sind. Allerdings sei eines auch klar: "Eine latente Bedrohungslage gab es auch schon vor dem Angriff aus Gaza." Umfangreiche Schutzmaßnahmen und ständige Umsicht sind für die Gemeinde keineswegs neu, sondern seit jeher Teil ihres Alltags. Jüdische Einrichtungen glichen auch in München Hochsicherheitstrakten, Grundschulkinder müssen jeden Morgen durch eine Sicherheitsschleuse mit Panzerglas gehen. "Nichts daran ist normal", sagt Knobloch. "Aber Normalität ohne aktiven Schutz ist für uns als jüdische Gemeinschaft in München leider derzeit nicht zu haben."

Die Gemeinde-Vorsitzende bezweifelt, dass das Panzerglas in naher Zukunft abgebaut werden kann und die Streifenwagen verschwinden. Man müsse realistisch sein, sagt sie. "Solange es Menschen gibt, die den Mord an Juden in Israel auf der Straße feiern wollen und Rechtsextreme sich im Parlament breitmachen, sehe ich wenig Spielraum in dieser Hinsicht."

Quelle: ntv.de

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