Zugführer wird vernommen Spanien trauert um Opfer des Zugunglücks
26.07.2013, 06:43 Uhr
Viele Leichen sind noch nicht identifiziert - für die Angehörigen eine furchtbare Situation.
(Foto: AP)
Nach dem Schock über die verheerende Zugkatastrophe in Spanien beginnt die Aufarbeitung. Erkenntnisse über die Gründe des Unfalls erhoffen sich die Ermittler von einer Befragung des Lokführers. Gewerkschaften nehmen den Mann in Schutz - sie machen ein falsches Tempokontrollsystem verantwortlich.
Nach der verheerenden Zugkatastrophe mit 80 Toten in Spanien wird mit Spannung die erste Vernehmung des Lokführers erwartet. Der 52-Jährige soll sich nach Medienberichten bereits heute als Beschuldigter bei der Polizei zum Unfallhergang äußern. Er hatte nach Informationen aus Ermittlerkreisen eingeräumt, dass der Zug auf einer Tempo-80-Strecke mit 190 Kilometern pro Stunde gefahren sei. Gewerkschaften nahmen den erfahrenen Lokführer aber in Schutz und erklärten: Schuld war das ungeeignete Tempokontrollsystem.
Wie die Regionalbehörden in Galicien mitteilten, wurden bei dem schwersten Eisenbahnunglück in Spanien seit mehr als 40 Jahren 178 Fahrgäste verletzt. Bei 33 Menschen war der Zustand noch kritisch. Nur 53 der 80 Todesopfer konnten rasch identifiziert werden. Gerichtsmediziner erklärten, die Identifizierung einiger Toten werde länger dauern. Die Katastrophe nahe der Pilgerstadt Santiago de Compostela war das erste tödliche Unglück auf einer Strecke des spanischen Hochgeschwindigkeitsnetzes.
Über den Grund der überhöhten Geschwindigkeit, mit der der Zug in die Kurve vier Kilometer vor dem Bahnhof des Wallfahrtsortes eingebogen sein soll, wurde zunächst nichts bekannt. Die staatliche Bahngesellschaft Renfe warnte vor vorschnellen Schlussfolgerungen. Renfe-Präsident Julio Gómez-Pomar erklärte, der Unglückszug sei am Morgen vor dem Unfall inspiziert worden. Er bezeichnete den Lokführer als erfahren und wies darauf hin, dass der Mann seit mehr als einem Jahr auf der Unglücksstrecke im Dienst gewesen sei.
Debatte um Tempokontrollsystem
Die Lokführer-Gewerkschaft (Semaf) brachte eine Debatte mit der Behauptung ins Rollen, die Tragödie hätte mit dem modernen ERTMS-Tempokontrollsystem an der Unglücksstelle verhindert werden können. Da die 2011 eingeweihte Hochgeschwindigkeitsstrecke aber vier Kilometer vor Santiago - kurz vor der Unfallstelle - ende, sei das ältere ASFA-System im Einsatz gewesen, das den Zug beim Überschreiten der erlaubten Geschwindigkeit nicht immer automatisch abbremse, klagte Semaf-Generalsekretär Juan Jesús Fraile im Radio. "Ideal wäre es gewesen, wenn man die Hochgeschwindigkeitsstrecke bis Santiago fertiggebaut hätte", sagte er.

Da die Waggons ineinander verkeilt waren, hatten die Rettungskräfte Schwierigkeiten, zu den Opfern zu gelangen.
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Die Eisenbahninfrastruktur-Behörde ADIF wies die Vorwürfe zurück. Im städtischen Raum und bei der Stationseinfahrt sei das ASFA das geeignete System, hieß es. Polizei- und Eisenbahnexperten untersuchen die Unfallursache. Einen Anschlag schlossen die Ermittler schnell aus.
Der Lokführer und sein Assistent überlebten das Unglück nahezu unverletzt. Nach Informationen der Zeitung "El País" soll der Lokführer unmittelbar nach der Katastrophe über Funk der Leitstelle im Bahnhof von Santiago gesagt haben: "Ich hoffe, es gibt keine Toten, denn die gingen auf mein Gewissen."
Drei Tage offizielle Trauer
Der Wallfahrtsort, der das Ziel des Jakobsweges bildet, sagte alle Feiern zu Ehren des Heiligen Jakobs an diesem Wochenende ab. Die traditionelle Zeremonie ist das wichtigste Fest des Jahres in Santiago. Ministerpräsident Mariano Rajoy ordnete für ganz Spanien eine offizielle Trauer von drei Tagen an.
Der Unglückszug war am Mittwoch auf der Fahrt von Madrid zur Küstenstadt Ferrol im Nordwesten Spaniens gewesen. Die Waggons des Zuges wurden bei dem Unglück auseinandergerissen und sprangen aus den Schienen. Einige Wagen prallten neben den Gleisen gegen eine Betonwand und stürzten um, andere Waggons verkeilten sich ineinander. Ein Wagen flog sogar über die Begrenzungsmauer hinweg. Die verkeilten und zerstörten Waggons an der Unfallstelle erinnerten an das folgenschwere ICE-Unglück von Eschede 1998.
Nach Ansicht des Sprechers der Hinterbliebenen von Eschede muss Sicherheit im Bahnverkehr oberste Priorität und Vorrang vor Wirtschaftlichkeit und Tempo haben. Das forderte Heinrich Löwen, der bei der Katastrophe 1998 Frau und Tochter verlor. Auch lange nach der Katastrophe gingen die Gedanken an so ein Geschehen nie völlig unter. Bei Anlässen wie dem Zugunglück in Spanien kämen sie wieder hoch, so Löwen. Er riet, die Menschen dürften sich nicht vereinzeln, sondern sollten sich gegenseitig unterstützen. Eine rückhaltlose Aufklärung sei selbstverständlich.
Die Katastrophe von Santiago war das drittschwerste Bahnunglück in der spanischen Geschichte. 1944 kamen bei einer Zugkollision bei León im Norden des Landes wahrscheinlich mehr als 500 Menschen ums Leben; die Zensur der Franco-Diktatur bezifferte die Zahl der Opfer auf 78. Im Jahr 1972 forderte ein Zugunglück in Andalusien 86 Menschenleben.
Quelle: ntv.de, dpa