Der Tag der Entscheidung in Kairo Ägypten am Scheidepunkt
03.07.2013, 11:00 Uhr
Zehntausende gingen in der Nacht in Kairo auf die Straße.
(Foto: dpa)
Kein Rücktritt, kein Entgegenkommen: Mit seiner Rede brüskiert Präsident Mursi die Demonstranten in Kairo. Nun tickt die Zeit. Denn am Nachmittag endete das Ultimatum an den ägyptischen Machthaber. Und dann? Jetzt will die Armee über die Zukunft des Landes entscheiden.
"Mursi, geh, du bist nicht unser Präsident" - auch am Vormittag nach der blutigsten Nacht, die Kairo in den letzten zweieinhalb Jahren erlebt hat, schallen wieder Sprechchöre über den Tahrir-Platz. Zehntausende hatten hier den gesamten Abend protestiert und den Rücktritt des Präsidenten gefordert, erst zum Sonnenaufgang wurden es weniger. Nach einer kurzen Atempause strömen inzwischen wieder Menschen auf den zentralen Platz. In den Seitenstraßen haben die Demonstranten improvisierte Checkpoints eingerichtet. Sie wollen nicht, dass es hier zu Gewalt kommt.
Im Universitätsviertel von Kairo war dies in der vergangenen Nacht nicht gelungen. Die Lage eskalierte, nachdem Gegner und Anhänger von Präsident Mursi aufeinander losgegangen waren. 16 Tote und über 200 Verletzte waren die Folge. Immer wieder waren die Sirenen von Krankenwagen zu hören und das Blaulicht von Einsatzfahrzeugen zu sehen. Bei Zusammenstößen in anderen Städten Ägyptens gab es weitere 6 Tote.
Auslöser für die blutigen Krawalle war eine Rede von Mursi, die im Staatsfernsehen übertragen wurde. Ein Affront für die Demonstranten. Denn das Staatsoberhaupt kündigte weder seinen Rücktritt an, noch signalisierte er ein ernst gemeintes Zugehen auf die Opposition. Stattdessen Durchhalteparolen: "Das Volk hat mich in freien und gleichen Wahlen gewählt. Unter Einsatz meines Lebens werde ich weiter Verantwortung für dieses Land übernehmen." Das Rücktritts-Ultimatum der Opposition hatte er am Nachmittag da schon ergebnislos verstreichen lassen.
Wohin führt der "Fahrplan für die Zukunft"?
Der Auftritt im Fernsehen wirkte wie Öl ins Feuer der Unzufriedenen. Nicht er, sondern die "Überbleibsel des alten Regimes" von Husni Mubarak seien Schuld an den Missständen im Land. Diese Elemente würden den Zorn der ägyptischen Jugend missbrauchen, die "alte kriminelle Clique" wolle über Gewalt und Chaos an die Macht zurückkehren. Das Militär solle in seinen normalen Dienst zurückkehren. Auch das Oberkommando der Streitkräfte sah sich durch die Rede brüskiert und erklärte postwendend über Facebook, die Soldaten seien ebenfalls bereit, für das ägyptische Volk zu sterben.
Nach dem ersten, bereits verstrichenen Ultimatum der Opposition läuft an diesem Mittwoch um 17 Uhr ein weiteres, entscheidenderes Ultimatum der Armeeführung aus. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen sich beide Seiten - Regierung und Opposition - auf einen tragfähigen politischen Kompromiss einigen. Nach der Eskalation der letzten Tage und vor allem nach der Rede Mursis deutet allerdings nichts darauf hin, dass dies gelingt. Jetzt, nach dem Verstreichen der 17-Uhr-Frist, will das Militär einschreiten und seinerseits einen "Fahrplan für die Zukunft" präsentieren.
Der zweite Arabische Frühling
Wie der aussehen könnte, ist noch unklar. Mehrere Optionen werden diskutiert. Schnelle Einsatztruppen könnten in Kairo und anderen Großstädten eingesetzt werden, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Das Militär könnte Mursi des Amtes entheben und die Macht in die Hände einer Übergangsregierung legen, um dann Neuwahlen auszuschreiben. Oder aber, auch das ist eine Option, das Militär übernimmt selbst die Macht.
Mursi hat seinen Kredit verspielt. Die Menschen werfen ihm nicht nur die Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft vor, sondern vor allem die Art und Weise, wie er die Macht für sich und seine Interessen missbraucht. Ähnlich wie Mubarak gehe es ihm nicht um Ägypten, sondern nur um sich selbst.
In diesen Tagen sind inzwischen mehr Menschen auf den Straßen von Kairo unterwegs als damals vor zwei Jahren im Januar 2011, als sie Mubarak nach 18 Tagen aus dem Amt gejagt hatten. Die Ägypter suchen eine zweite Chance für den Arabischen Frühling und endlich eine politische Führung, die ihr Land nicht länger als Trophäe im Machtpoker der eigenen Interessen begreift.
Der Weg dahin ist lang. Heute geht es erst einmal um Mursi. Die nächsten Stunden sind entscheidend.
Quelle: ntv.de