Reaktion auf anhaltende Gewalt Ägyptens Regierung tritt zurück
21.11.2011, 20:08 Uhr
In Kairo kommt es weiterhin zu heftigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Mehr als 20 Menschen sterben, Tausende sollen verletzt sein. Die Regierung zieht die Konsequenzen: Sie tritt zurück, eine Woche vor den Parlamentswahlen. Nach dem Willen des herrschenden Militärrats sollen diese trotzdem stattfinden.
Die ägyptische Regierung hat dem Obersten Militärrat ihren Rücktritt erklärt. Die Entscheidung sei "angesichts der schwierigen Umstände, in denen sich das Land derzeit befindet", getroffen worden, sagte der Regierungssprecher Mohammed Hidschasi laut der amtlichen Nachrichtenagentur Mena. Unter anderem hatten die Muslimbrüder und die Jugendbewegung 6. April den Rücktritt der Regierung gefordert.
Offen blieb jedoch, ob der Militärrat den Rücktritt akzeptieren wird oder nicht. Ein Militärsprecher sagte der regierungsnahen Nachrichtenwebsite "Al-Ahram Online", der Rat habe noch keine Entscheidung gefällt. Keine Bestätigung gab es für Berichte, wonach der Präsidentschaftskandidat und Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei für dieses Amt im Gespräch sein soll. Der Nachrichtensender Al-Dschasira hatte zuvor gemeldet, der Militärrat, der das Land seit der Entmachtung von Präsident Husni Mubarak im Februar lenkt, habe die Rücktritte bereits angenommen.
Die Regierung unter Essam Scharaf werde solange ihre Aufgaben erfüllen, bis der Militärrat über den Rücktritt entschieden habe, sagte Hidschasi weiter. Der im März angetretene Scharaf war anfangs sehr beliebt bei den pro-demokratischen Kräften seines Landes. Im Laufe der Monate wuchs jedoch die Enttäuschung, weil sich die Regierung gegenüber dem Militärrat als machtlos erwies und Reformen nur langsam anging.
Tränengas und Gummigeschosse
Derweil lieferten sich auf dem symbolträchtigen Tahrir-Platz in Kairo Demonstranten und Sicherheitskräfte den dritten Tag in Folge schwere Zusammenstöße. Nach Informationen des Gesundheitsministeriums starben seit Samstag mindestens 24 Menschen. Krankenhausärzte berichteten, 33 Menschen seien getötet worden, darunter auch mehrere Angehörige der Sicherheitskräfte. Insgesamt sollen bei den Straßenschlachten in Kairo und Alexandria rund 2200 Menschen verletzt worden sein, schätzten die Ärzte.
Wie auf live im Fernsehen übertragenen Bildern zu sehen war, gingen die Sicherheitskräfte weiterhin mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor, die ihrerseits Steine warfen. Die Protestierenden teilten sich immer wieder in kleine Gruppen auf, besonders schwere Ausschreitungen gab es nahe des Innenministeriums. Ein Militärsprecher forderte die Demonstranten auf, den Tahrir-Platz zu räumen. Dies sei im öffentlichen Interesse.
Seit Tagen richtet sich der Protest der Menschen gegen die Macht des regierenden Obersten Militärrats und besonders gegen dessen Chef, Marschall Hussein Tantawi. "Das Volk will die Hinrichtung des Marschalls", riefen die Demonstranten. Ab kommendem Montag finden in Ägypten Parlamentswahlen statt. Es ist die erste Wahl seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Husni Mubarak im Februar.
Nahost-Beauftragter soll Gespräche führen
Proteste gab es am Wochenende auch in Suez, Alexandria, Al Arich, Isamilia, Kena und Assiut. In Suez feuerten Soldaten mit scharfer Munition auf Demonstranten, die eine Polizeiwache stürmen wollten. In Alexandria lieferten sich Teilnehmer an einem Trauermarsch für einen am Vortag getöteten Demonstranten laut der ägyptischen Nachrichtenagentur MENA Zusammenstöße mit der Polizei. Nach Angaben eines Sicherheitsbeamten wurden landesweit 55 Menschen festgenommen.
International wurde die Gewalt kurz vor den Wahlen mit großer Sorge betrachtet. Bundesaußenminister Guido Westerwelle schickte den Nahost-Beauftragten der Bundesregierung in das Land. Dieser werde dort "die richtigen Gespräche mit den richtigen Gesprächspartnern führen", sagte ein Außenamtssprecher in Berlin. Westerwelle appelliere an alle Seiten, die Gewalt einzustellen und "den Weg in Richtung Demokratie jetzt nicht abzubrechen", sagte der Sprecher. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zeigte sich "äußerst besorgt" über die anhaltende Gewalt. Sie forderte die Beteiligten zu "Ruhe und Zurückhaltung" auf und verurteilte die Gewalt "auf das Schärfste".
Auch der Chef der Arabischen Liga, Nabil al Arabi, rief zur Ruhe auf. Er sei "sehr beunruhigt" und alle Seiten müssten sich unter Wahrung des Demonstrationsrechts und des Rechts auf freie Meinungsäußerung in Zurückhaltung üben, erklärte er. Der britische Außenminister William Hague sagte in der BBC, die Gewalt in Ägypten gebe "Anlass zu großer Sorge". Dennoch stünden Wahlen an und trotz aller Konflikte und Probleme "müssen wir optimistisch bleiben, was den arabischen Frühling angeht".
Kampf auf den Barrikaden
Zehntausende Menschen hatten bereits am Freitag auf dem Tahrir-Platz gegen die Macht des Militärs demonstriert. Als Polizisten am Samstag versuchten, eine Sitzblockade auf dem Platz unter Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen aufzulösen, bewarfen die Demonstranten die Sicherheitskräfte mit Steinen und setzten einen Polizeiwagen in Brand. Dutzende Menschen versuchten, in der Nähe des Innenministeriums Barrikaden zu errichten.
Auf dem Tahrir-Platz skandierten die Demonstranten Parolen gegen den Militärrat. Dessen Chef Hussein Tantawi war 20 Jahre lang Verteidigungsminister und einer der engsten Mitarbeiter des gestürzten Präsidenten Husni Mubarak. Der Militärrat hatte nach dem durch Massenproteste erzwungenen Rücktritt des langjährigen Präsidenten im Februar die Regierungsgewalt übernommen und will die Macht nach eigenen Angaben nach der Präsidentschaftswahl abgeben.
Wahltermin bleibt
Die ersten Wahlen nach dem Sturz Mubaraks sollen ab dem 28. November abgehalten werden. Viele Ägypter sind besorgt, dass es der Polizei nicht gelingen könnte, dabei für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Zudem gibt es Streit zwischen politischen Gruppierungen und den Militärmachthabern über die künftige Rolle der Streitkräfte. Dabei geht es um grundsätzliche Regeln für eine Verfassung, nach denen die Armee auch künftig nicht einer parlamentarischen Kontrolle unterstehen könnte. Das Parlament soll ein Gremium bestimmen, welches die Verfassung erarbeitet.
General Mohsen Fangari erklärte im Fernsehen, diejenigen, die einen Sturz der Regierung forderten, wollten auch den Zusammenbruch des Landes. Zugleich betonte er, die Wahlen fänden wie geplant statt und würden nicht verschoben. Die Armee und das Innenministerium würden für die Sicherheit sorgen.
Der Militärrat erließ zudem ein Dekret, das es früheren Parteigängern von Mubarak erschweren wird, weiterhin politisch aktiv zu sein. Das Dekret, das von den staatlichen Medien veröffentlicht wurde, sieht ein fünf Jahre währendes politisches Betätigungsverbot für jeden Ägypter vor, der sich der "politischen Korruption" schuldig gemacht hat. Hintergrund ist die Kandidatur zahlreicher ehemaliger Mitglieder der inzwischen aufgelösten Nationaldemokratischen Partei. Sie treten bei den Parlamentswahlen als unabhängige Kandidaten oder auf den Listen neuer Parteien an.
Quelle: ntv.de, AFP/rts/dpa