Bund und Länder beschließen umfangreiche Maßnahmen zur Bekämpfung der vierten Pandemie-Welle. Darunter ein Lockdown für Ungeimpfte, Kontaktbeschränkungen für alle und ein Böllerverbot. Der kommende Kanzler Scholz korrigiert damit den bisherigen Ampelkurs, während Merkel die Impfpflicht empfiehlt.
16 Jahre Kanzlerschaft sind voller Treppenwitze und irrer Zufälle. Dass Angela Merkel aber ausgerechnet am Tag ihrer offiziellen Verabschiedung noch einmal eine Konferenz mit den Ministerpräsidenten zur Corona-Lage abhält, gehört sicher zu den besonders kuriosen Momenten ihrer langen Regierungszeit. Zumal es ein besonders bitterer Moment ist: "Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten wir in Deutschland keine vergleichbare Situation im Gesundheitswesen", konstatiert Merkels Parteikollege, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst, in der anschließenden Konferenz. Die letzten 20 Regierungsmonate der Bundeskanzlerin waren von dem Ziel geprägt, genau das zu vermeiden: eine Überlastung des Gesundheitssystems. Nun ist die Überlastung regional eingetreten und somit Merkel gescheitert, auch wenn es alles andere als ihr alleiniges Scheitern ist.
Die Kanzlerin hatte im vergangenen Winter - ebenso wie die anderen Verantwortungsträger im Land - der Bevölkerung Erleichterungen in Aussicht gestellt, sobald erst einmal ein wirksames Impfmittel in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehe. Das ist inzwischen seit Monaten der Fall und dennoch wird die übergroße Mehrheit der Geimpften diesen Winter viele Einschränkungen erfahren. Private Veranstaltungen in Innenräumen werden auf 50 Teilnehmer beschränkt. Für Großveranstaltungen gelten ebenfalls Obergrenzen. In besonders belasteten Regionen werden gar keine Fußballspiele und andere Massenevents stattfinden dürfen. Um die Kliniken nicht zusätzlich zu belasten, werden wie schon beim letzten Jahreswechsel vor Silvester keine Raketen und Böller verkauft. Wo 2G plus gilt, wird wieder der vorherige Besuch im Corona-Testzentrum zur Pflicht.
Für die Ungeimpften fallen die Einschränkungen sogar richtig streng - und aus deren Sicht rabiat - aus: Haushalte, in denen Ungeimpfte leben, dürfen maximal zwei Menschen aus einem anderen Haushalt in Innenräumen treffen. Das gilt auch für minderjährige Ungeimpfte, die älter als 14 Jahre sind. Die Ungeimpften werden zudem weitgehend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen: Die 2G-Regel gilt demnächst außer für Geschäfte des täglichen Bedarfs bundesweit. Schon ab Februar, kalkuliert Merkel, könnte eine allgemeine Impfpflicht greifen.
Merkel würde für Impfpflicht stimmen
Die Impfpflicht hilft zwar nicht gegen die vierte Welle, die es derzeit zu brechen gilt, vielleicht aber bei der fünften oder sechsten. Schließlich mutiert das Corona-Virus munter weiter. Eine Impfpflicht gilt deshalb nicht nur für Ungeimpfte, sie nimmt auch Geimpfte in die Pflicht, eine Auffrischung vornehmen zu lassen. Auch dafür will die Regierung mit einer Befristung der 2G-Gültigkeit sorgen.
An Merkels letztem Arbeitstag vereinbaren Bund und Länder in Deutschland damit nie da gewesene Maßnahmen, die tief in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen eingreifen. "Wäre ich im Deutschen Bundestag, könnte ich sagen, dass ich mich dafür aussprechen würde, also auch dafür stimmen würde", sagt Merkel über die voraussichtlich vom Fraktionszwang losgelöste Abstimmung über eine Impfpflicht. Die Impflücke sei eben zu groß, argumentiert sie. Fast wortgleich begründet auch ihr Nachfolger Olaf Scholz die umfangreichen Maßnahmen, die einem Lockdown für Ungeimpfte gleichkommen. "Alles, was wir jetzt erleben, alles, was uns jetzt umtreibt, hat damit zu tun", sagt er über die Nichtgeimpften.
In sechs Tagen will sich Scholz zum Bundeskanzler wählen lassen. Schon vor Amtsantritt musste er sich und den Kurs seiner Ampelkoalition korrigieren: Die erst vor zwei Wochen verabschiedete Novelle des Infektionsschutzgesetzes durch die Ampel hat sich als nicht ausreichend erwiesen. "Ich freue mich auch, dass das Infektionsschutzgesetz noch mal überarbeitet wird und Ländern, die in Not sind, weitere Spielräume gibt", sagt Merkel mit Blick auf die Bereitschaft der Ampelparteien, nun doch regionale Schließungen von Gastronomie und Hotellerie sowie anderen Freizeitangeboten über ein Bundesgesetz zu regeln.
"Das bedrückt mich"
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, wie Scholz Sozialdemokrat, verteidigt das Infektionsschutzgesetz umgehend. Dass die Länder unter Unionsführung hier so vehement Nachbesserungen gefordert und auf Instrumente wie zu Zeiten der ausgelaufenen pandemischen Notlage gedrungen haben, während bestehende Möglichkeiten zur Pandemiebekämpfung nicht voll ausgeschöpft wurden, bleibt ein nicht vollends aufgelöster Streitpunkt. Aber die Lage ist zu dramatisch, um sich weiter damit zu beschäftigen.
Auch wenn die Ampelparteien aus Merkel-Sicht zunächst falschlagen, versichert die scheidende Regierungschefin, dass Deutschland auch bei einem Bundeskanzler Scholz in guten Händen sei. "Auch wenn ich nicht mehr da bin, wird daran weitergearbeitet", sagt Merkel über die Corona-Bekämpfung. Scholz kenne als früherer Erster Bürgermeister von Hamburg die Perspektive und die Interessen der Länderchefs. Angesichts der Gesamtlage tritt Merkel nach eigener Auskunft aber nicht fröhlich ab: "Dass wir jetzt in einer so starken vierten Welle sind, stimmt mich nicht froh. Das bedrückt mich", sagt sie.
Dann verabschiedet Merkel sich zum Großen Zapfenstreich, ihrer feierlichen Verabschiedung durch die Bundeswehr. Die Durchsetzung strenger Corona-Maßnahmen, die Debatte zur Impfpflicht, die nächste Ministerpräsidentenkonferenz: Das alles ist jetzt Scholz' Problem.
Quelle: ntv.de