Politik

Folgen aus Putins "Hungerkrieg" "Angriff auf Ukraine hat bestehende Hungersnot verschärft"

Ein Mähdrescher erntet Getreide auf einem Feld bei Odessa im Süden der Ukraine.

Viele Länder sind auf die Lieferung von Getreide aus der Ukraine angewiesen.

(Foto: -/Ukrinform/dpa)

In wenigen Tagen endet das Abkommen über eine Verlängerung des Getreideexports zwischen Russland und der Ukraine. Als globaler Getreidelieferant bedroht der Überfall auf die Ukraine und der kurzzeitige Exportstopp im vergangenen Jahr die Lebensmittelversorgung vieler Länder. Eine Hungerkrise habe der Krieg trotzdem nicht ausgelöst, sondern in einigen Ländern nur noch verschärft, sagt Anja Osterhaus von der Hilfsorganisation Oxfam. Die Lösung für das Problem sei aber nicht, mehr Lebensmittel zu produzieren, erklärt sie im Interview mit ntv.de.

ntv.de: Russlands Präsident Wladimir Putin führe einen "Hungerkrieg" in der Ukraine, heißt es immer wieder. Was ist mit diesem Begriff genau gemeint?

Anja Osterhaus: Gemeint ist damit vor allem die Eskalation im letzten Sommer, als die Schiffe für die Getreideexporte aus der Ukraine nicht mehr von den Häfen ablegen konnten. Dadurch war es von jetzt auf gleich für viele Länder nicht mehr möglich, von dort Getreide zu importieren.

Welche Länder waren davon besonders schwer getroffen?

Das war eine Katastrophe für Länder, die besonders abhängig sind von ukrainischen Getreideimporten, wie zum Beispiel Eritrea. Das Land hat vor dem Krieg 100 Prozent seines Getreides aus Russland und der Ukraine importiert. Sobald dann eine Quelle nicht mehr zugänglich ist, ist das sofort sehr bedrohlich. Vor allem für Länder wie Eritrea, Somalia und dem Jemen, wo Menschen sowieso schon unter Hunger leiden. Der Begriff "Hungerkrieg" ist ein politischer und wurde auch sehr politisch eingesetzt.

Diese Woche sollen die Verhandlungen mit Russland über eine Verlängerung des Abkommens für den Getreideexport über das Schwarze Meer beginnen. Welche Auswirkungen hätte es dieses Mal, wenn das Abkommen nicht verlängert wird oder Getreideschiffe eine Zeit lang die Häfen nicht verlassen könnten?

Diese sogenannte Schwarzmeer-Getreide-Initiative hat im vergangenen Sommer die akute Problemlage gelöst. Aber wenn man sich anschaut, wohin das Getreide aus der Ukraine geht, sind das nicht nur einkommensschwache Länder. Nicht alles geht nach Somalia, in den Jemen oder nach Eritrea. Laut Statistik des Europäischen Rates gehen zwei Drittel der Weizen-Exporte aus Russland und der Ukraine in sogenannte Entwicklungsländer, bei Mais ist es etwa die Hälfte. Der Rest geht an sogenannte entwickelte Länder. Dieses Getreideabkommen ist wichtig, aber es nutzt eben nicht nur armen Ländern, wie oft angenommen wird.

In Folge des Krieges sind die Preise für Lebensmittel weltweit gestiegen. Was bedeutet das zusätzlich für die Hungerkrise?

Die Hungerkrise bestand schon vor dem Ausbruch des Ukrainekrieges. Das wird häufig vergessen. Die Weltgemeinschaft hat sich verpflichtet, bis 2030 den Hunger auf der Welt zu überwinden. Wir waren über viele Jahre auch auf einem sehr guten Weg. Von 1990 bis 2015 ist die Anzahl der Hungernden signifikant zurückgegangen, um über 200 Millionen Menschen, obwohl es gleichzeitig ein starkes Bevölkerungswachstum gab. Aber in den letzten Jahren ist die Zahl der Hungernden wieder gestiegen. Während der Corona-Pandemie hat sich die Lage in vielen Ländern stark verschlechtert. Dazu kommen noch andere Probleme, wie Konflikte vor Ort oder die Klimakrise. Diese Faktoren haben schon lange vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine zu einer Hungerkrise geführt, speziell in Afrika, aber auch in Afghanistan und im Jemen. Die Exportproblematik in der Ukraine hat dann in einzelnen Ländern noch mal zu einer signifikanten Verschärfung geführt. Es stimmt also nicht, dass die Hungerkrise durch den Krieg ausgelöst wurde. Sie hat sich dadurch noch mal verschärft. Jetzt ist die Situation, dass jeder zehnte Mensch auf der Welt hungert.

Vor allem Kinder sind davon betroffen.

In allen Krisen sind Kinder und Frauen immer am stärksten betroffen. Das sind immer die, die am stärksten leiden, auch unter Hunger. Das Ausmaß ist so extrem, dass viele daran sterben.

Gibt es noch andere Faktoren, die die Hungerkrise verschärfen und verschärft haben in den letzten Jahren?

Sehr stark die Klimakrise. In einer Studie haben wir festgestellt, dass sich Hungersnöte in Klimakrisen-Gebieten in den letzten sechs Jahren mehr als verdoppelt haben. Dazu zählen nicht nur Dürre, sondern auch Überschwemmungen oder anderes Extremwetter.

Vor allem in Afrika kämpfen Länder mit Dürre.

Ein sehr verbreitetes Phänomen. In Teilen Ostafrikas ist letztes Jahr zum vierten oder fünften Mal in Folge der Regen komplett ausgeblieben. Es kam immer mal wieder vor, dass der Regen eine Saison oder zwei ausgeblieben ist, aber nicht mehrere Jahre in Folge. Und diese Krisen treffen auf Menschen, die durch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie schon sehr stark geschwächt waren. Dazu kommen dann Klimafolgen wie Wassermangel, die erhöhten Preise, ausgelöst durch den Krieg. Diese multiplen Ursachen haben die Hungerkrise sehr stark verschärft.

Gibt es Ihrer Meinung nach eine Lösung für das Hungerproblem? Können wir es schaffen, auf den guten Weg von vor acht Jahren zurückkehren?

Ja. Interessanterweise denkt man ja, die Lösung liege darin, mehr Nahrungsmittel zu produzieren. Das ist aber nicht der Fall. Wir haben mehr als genug Nahrungsmittel auf der Welt. Eine andere Falschannahme ist auch, Preissteigerungen auf den Mangel an Nahrungsmitteln zurückzuführen. Das ist zwar lokal in bestimmten Orten, wenn es keinen Weizen gibt, durchaus möglich. Insgesamt gibt es aber genug Nahrungsmittel, sie sind nur falsch verteilt. Der Nahrungsmittelmarkt wird von ein paar großen Konzernen dominiert, die sehr stark auf die Preisbildung Einfluss nehmen. Ein anderes Problem ist Abhängigkeit mancher Länder von Importen. Dass Somalia vor einer Katastrophe steht, wenn die Exporte aus der Ukraine nicht mehr funktionieren, ist ein grundlegendes Problem. Fakt ist, dass zum Beispiel in Asien und großen Teilen Afrikas 70 Prozent der lokalen Nahrungsmittelversorgung von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen geleistet wird.

Wie kann man das erreichen?

Die Selbstversorgung müsste viel intensiver gefördert werden, um weniger anfällig für solche Krisen zu sein. Es ist nicht unbedingt eine Frage des Geldes, sondern die Frage, welche Prioritäten setzen diejenigen, die das Geld verteilen? Oxfam setzt sich intensiv für Ernährungssouveränität ein. Dahinter steht die Idee, dass lokale Produktion von Lebensmitteln sehr ernst genommen wird und dadurch eine größere Unabhängigkeit von Importen erreicht werden kann.

Mit Anja Osterhaus sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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