"Panikmache" oder "andere Situation"? Berlin und die Terrorwarnung
24.11.2010, 11:15 Uhr
Schwer bewaffnete Polizisten gehören derzeit zum Erscheinungsbild von Großstadtbahnhöfen
(Foto: REUTERS)
Terrorwarnungen waren in Deutschland bisher wenig explizit. Durch die Informationen von Bundesinnenminister de Maizière erscheint die Gefahr eines Al-Kaida-Angriffs nun konkreter. Die Regierung warnt gar vor einer Hysterie in der Bevölkerung. Zu Recht?
Der Mittagshimmel über dem Reichstag ist trüb, die Atmosphäre auf dem Vorplatz beinahe gespenstisch. Wo sich sonst – unabhängig von Wetter und Jahreszeit – Touristen tummeln, dominieren nun schwer bewaffnete Polizeikräfte. Aus Angst vor dem Horrorszenario einer Geiselnahme durch Al-Kaida-Terroristen sperrte man mit der gläsernen Kuppel das Prunkstück des Sitzes unserer Volksvertreter.
Ist der Besuch des Reichstages entbehrlich, sieht die Situation auf den Bahnhöfen und zentralen Plätzen Berlins schon anders aus. Nicht zuletzt auf Grund der Anschläge in Madrid (März 2004) und London (Juli 2005) gelten S- und U-Bahn-Stationen als Ziel islamistischer Terroristen. Verzichten können Hauptstädter wie Touristen auf die Bahn jedoch nur schwer. Dasselbe gilt für den Aufenthalt auf den zentralen Plätzen Berlins. Wer jedoch meint, dass die Arbeits- oder Urlaubszeit der Menschen von dauerhaften Bauchschmerzen oder gar von Panik begleitet ist, der irrt. Nicht wenige sehen den wahren Unruhefaktor in der Politik.
“Mehr Angst, über die Straße zu gehen“
Vor dem wie leer gefegten U-Bahnhof am Reichstag zeigt sich Julia Berczyk gleichgültig. “Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt kein schlechtes Gefühl“, entgegnet sie auf die Frage, ob die Terrorwarnung sie beeinflusse. “Es macht mir eher Angst in Berlin über die Straße zu gehen, als wenn mir in der Bahn ein Muslim mit einem Koffer gegenüber sitzt.“ Überhaupt finde sie es schade, dass das Thema Islam ein sicherheitspolitischer Aspekt geworden ist. Das Polizeiaufgebot an den Berliner Bahnhöfen hält sie für wenig sinnvoll. “Das gibt mir nicht unbedingt ein Gefühl von Sicherheit. Auf dem Hauptbahnhof könnte doch eigentlich jeder Gepäck in einem Schließfach deponieren, weggehen und alles in die Luft sprengen.“ Ähnlich sieht es auch Andreas, der vor dem S-Bahnhof am Alexanderplatz Würstchen verkauft. “Ich glaube nicht, dass der Staat in der Lage ist, das Ganze zu kontrollieren und fühle mich nicht sicherer durch die vielen Polizisten.“ Nach Gepäck blicke er sich nicht wirklich um. Dafür sei jedoch die Kühlbox, die er hinter sich abstellen muss, schon das ein oder andere Mal als Bombe verdächtigt worden. “Die Polizei nerven die Anrufe schon langsam“, sagt er.
Von den Sicherheitskräften “gut bewacht“ fühlt sich Thomas Hammer, der für die Berlin Recycling GmbH täglich auf dem Hauptbahnhof im Einsatz ist. “Wir machen hier unsere Arbeit und gehen davon aus, dass nichts passiert. Nach Gepäckstücken haben wir auch schon früher Ausschau gehalten“, so Hammer. Linda-Joan Gebauer arbeitet in einer Bäckerei im Bahnhof am “Alex“. Auch sie fühlt sich durch das größere Polizeiaufgebot sicher, sieht das Thema Terror allgemein jedoch eher künstlich aufgebauscht: “Viel Lärm um nichts“, lautet ihr knappes Fazit. Rudolf Maliske aus Regensburg wird da am Sony Center schon deutlicher, hält die Warnungen der Politik für “reine Panikmache“ und äußert sich auch zur möglichen Quelle der Bundesregierung, einem Al-Kaida-Aussteiger: “Das sind doch nur Trittbrettfahrer. Wenn jemand ernsthaft versuchen würde, aus der Szene auszusteigen, wäre er binnen kurzer Zeit tot.“ Zurück am “Alex“ scherzen noch zwei Geschäftsmänner, man solle mal einen Mathematiker fragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen.
“Klar hat man ein mulmiges Gefühl“
Es gibt aber auch Menschen, die die Terrorwarnung ernst nehmen. Zwar belaste sie der Hinweis des Bundesinnenministers nicht sonderlich, nach unbehüteten Gepäckstücken hätten sich die holländischen Touristen, vor dem Reichstag jedoch trotzdem schon umgeschaut. Für Kobi Payevski gehört das “Sich-Umschauen“ fast schon zum Alltag. Er lebt in Israel, weshalb Anschlagswarnungen “nichts wirklich Neues“ für ihn sind. “Immer wenn ich an Plätze komme, auf denen sich viele Menschen aufhalten, sehe ich mich um – das ist für mich etwas vollkommen Normales.“ Die spezielle Warnung des Innenministeriums hat ihn in seiner Urlaubsplanung jedoch auch beeinflusst. So gibt er zu, dass sich für ihn eine Besichtigung des Reichstages deswegen sofort erübrigte.

Warnt vor Hysterie: Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
(Foto: picture alliance / dpa)
Josien von Kampen arbeitet an einem kleinen Stand in den Potsdamer Platz Arkaden. Gefährdet fühlt sie sich dort nicht. “Ich habe eher ein mulmiges Gefühl in der U-Bahn, auch weil die Warnungen hier an den Tafeln allgegenwärtig sind“, sagt sie. “Ich finde es sehr gut, dass wir von der Regierung auf die Gefahr aufmerksam gemacht werden. Da sollte nichts vertuscht werden.“ Auch sie sehe sich in der Bahn nun häufiger um. Münevver Alhayiroglu und Melanie Fietzek, die in einem Bekleidungsgeschäft im Hauptbahnhof arbeiten, haben mit herrenlosen Gepäckstücken schon Erfahrungen gemacht – erst letztens sei man wegen einer vor dem Laden vergessenen Tasche kurze Zeit in Alarmbereitschaft gewesen. Mit der Horrorvision eines Anschlags wollen sich die beiden aber nicht zu stark beschäftigen: “Klar hat man ein mulmiges Gefühl, aber wenn man permanent daran denkt, bekommt man ja in Windeseile graue Haare“, meint Münevver. “Auf jeden Fall ist es eine andere Situation“, gibt sie zu und ihre Kollegin Melanie ergänzt: “Man überlegt schon manchmal, welchen Fluchtweg oder Notausgang man im Ernstfall nehmen würde.“
Von Gleichgültigkeit und Amüsement bis hin zu einem unguten Gefühl und einem Hang zur von der Politik gewünschten höheren Wachsamkeit ist in Berlin also alles vertreten. Nur eines machte sich nicht breit: Panik. Wer der Terrorwarnung von Beginn an nur ein ungläubiges Kopfschütteln abgewinnen konnte ist dafür sowieso kein Kandidat. Aber auch wo Nachdenklichkeit herrscht, muss noch lange keine Hysterie entstehen.
Quelle: ntv.de