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Wieduwilts Woche Bitte keinen Kniefall vor Erdogan, Herr Scholz!

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Der türkische Präsident Erdoğan mit türkisch-palästinensischem Freundschaftsschal und Pilotenbrille vor einem Bild des Felsendoms.

Der türkische Präsident Erdoğan mit türkisch-palästinensischem Freundschaftsschal und Pilotenbrille vor einem Bild des Felsendoms.

(Foto: picture alliance / Anadolu)

Der leise, verdruckste Bundeskanzler bekommt Besuch vom türkischen Präsident Erdoğan - einem autoritären Israelhasser mit protziger Pilotenbrille. Kann das gut gehen?

Ich schreibe diese Kolumne oft in einem kleinen Café mit großen Fenstern an einer Berliner Straßenecke. Dort starre ich dann meist eine gute Stunde auf die Passanten, mampfe Sucuk-Panini und inhaliere Kaffee, bis endlich so etwas wie ein Text entsteht oder die Mischung aus Koffein und Zeitdruck die Finger zittern lässt. Die Straße ist interessant, sie kann Theater unserer schrägen Gegenwart sein. An diesem Morgen haben wieder neongelbe Fahrradpolizisten Radler wegen Falschabbiegens rausgewunken, es wurde viel gezetert und ich dachte an Israel.

Die Szene ist bemerkenswert, weil am anderen Ende derselben Straße praktisch jeden Tag ein offener Drogenhandel stattfindet, in Sichtweite der Polizeidirektion 1 Abschnitt 15. Man spaziert dort einmal auf und ab und bekommt häufiger Gras angeboten als ein SZ-Abo in der Fußgängerzone. Manchmal kommt es unter den Dealern zu Streit und Gebrüll, wenige Meter weiter stehen Schaukeln herum, für die Kinder.

Die Beamten in der Polizeidirektion 1 Abschnitt 15 kümmert der Weed-Supermarkt offenbar wenig. Diese Nonchalance ist allerdings höchst selektiv, siehe Radfahrer. Und wenn im Sommer ein paar zerzauste Medienstudenten einen Alugrill auf den Parkrasen stellen, heißt es blitzartig: Tatütata, Personalausweise bitte! Nur wenn ein Dutzend Migranten auf dem Hügel verteilt gestrecktes Gras verkaufen, ist das offensichtlich ein staatlicherseits ganz und gar unlösbares Problem.

Verliebt in Osama bin Laden

Mir sind die Dealer im Grunde egal, für ihre Tätigkeit gibt es persönliche Gründe und auch asylpolitisches Versagen hat einen Anteil. Aber ich glaube nicht, dass diese demonstrative Selektivität der Rechtsdurchsetzung spurlos am Publikum vorbeigeht. Manche können sich alles erlauben, andere nichts. Es wird mit unterschiedlichem Maß gemessen, und genau das bringt mich zu Israel.

Nach dem Massaker ist es zahllosen Teilen der Gesellschaft, seien es Muslimverbände, linke Studenten oder die Clubszene, nicht eingefallen, der Hamas einen Rechtsbruch vorzuwerfen. Manche haben deren Mordfestival als Widerstand verbrämt, von jenen, die es bejubeln, ganz zu schweigen, und diese Woche haben dann noch verblödete Tiktok-Influencer sich frisch in Osama bin Ladens "Brief an Amerika" verliebt. Die ganz und gar verkommenen Vereinten Nationen, ein internationales Hebelwerk für Schurken und Diktatoren, haben die Mörderbande Hamas bekanntlich nicht einmal erwähnt.

Deutlich kleineres Karo gilt für Israel: Der Judenstaat bekam die ersten Ermahnungen zu einem Zeitpunkt, als die letzten Mordopfer noch ausbluteten. UN-Experten erkennen im Vorgehen Israels im Gaza-Streifen derzeit das "Risiko eines Völkermords". Dieselben Experten waren zum Köpfen und Abschlachten am 7. Oktober seltsamerweise nicht zu hören.

Israel-Beschimpfung und dann Händedruck

Das liegt zum größten Teil daran, dass viele Menschen auf der ganzen Welt die Juden hassen und in dem Staat Israel einen passablen Proxy für ihren glühenden Antisemitismus gefunden haben - es ist wirklich so simpel. Es liegt zum anderen aber daran, dass Israel als Bestandteil einer juristisch einhegbaren Wertegemeinschaft betrachtet wird, islamische Staaten wie etwa Syrien, das zum Beispiel Homs vor wenigen Jahren in die Steinzeit bombardierte, nicht. Niemand ging für über 100.000 Tote allein im Jahr 2015 auf die Straße.

Dieses Messen mit zweierlei Maß reicht bis in die Regierungsspitze. Legendär war etwa der Auftritt des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas im Bundeskanzleramt: Abbas, der als wahren Grund für Antisemitismus kürzlich die angebliche soziale Rolle der Juden als Geldleiher identifizierte (womöglich hat er den Podcast von Precht und Lanz gehört), konnte unmittelbar neben dem Kanzler den Holocaust relativieren und Israel als Massenmörder bezeichnen, ohne dass Scholz auch nur zuckte. Zum Abschluss ein freundlicher Händedruck: Kommen Sie bald wieder!

Wird sich dieses peinliche, schwache Schauspiel nun mit Erdoğan wiederholen? Der türkische Präsident hat vor seinem Besuch in Berlin alles gegeben, um zu zeigen, wie schnurzegal ihm die Ansichten seines Gastgeberstaates sind. Er bezeichnete Israels Existenzrecht als "umstritten": Israel - oder soll man es lassen? Erdoğan hätte sich beim Einsteigen ins Flugzeug auch mit dem Davidstern den Hintern wischen können, Deutschland hätte trotzdem nicht den roten Teppich eingerollt. Wie soll ein autoritärer Herrscher mit Pilotenbrille dieses Verhalten deuten, wenn nicht als Kniefall mit heruntergelassenen Hosen?

Deutschwestliche Beliebigkeit

Diese gemütliche deutschwestliche Beliebigkeit hat einen hohen Preis. Das einzige Mittel gegen Autoritarismus ist Autorität. Wer schwach auftritt, macht sich zum Opfer. Das Gekuschel Deutschlands mit Putin hat dazu beigetragen, dass der russische Präsident einen Überfall auf die Ukraine für ein risikoloses Unterfangen hielt. Doch offenbar ist die Geschichte zur Wiederholung verdammt.

Die Israelis haben diesen primitiven Mechanismus des Autoritarismus früh und notgedrungen verstanden: Ihr "Nie wieder" bezieht sich nicht darauf, nie wieder attackiert zu werden - das wäre ohnehin illusorisch, Antisemitismus geht so schlecht raus aus der Menschheit wie Kurkuma-Flecken aus einer Tischdecke. "Nie wieder" heißt "Nie wieder Opfer sein". Diese Mentalität ertüchtigte einen israelischen Soldaten beim Massaker des 7. Oktober dazu, von acht in einen Schutzraum geworfenen Handgranaten sieben wieder zurückzuwerfen, bevor ihn die achte tötete. Dieses "Nie wieder" ist, wie der Publizist Michael Wolffsohn einmal herausarbeitete, ein fundamentaler und unüberbrückbarer Unterschied zum deutschen "Nie wieder Täter sein".

Im Vorfeld des Erdogan-Besuchs gab es natürlich zahllose Versuche, den Besuch zu rationalisieren. Die Türkei sei ein verlässlicher NATO-Partner. Was sollen die Millionen Deutsch-Türken nur denken, wenn man ihren Chef nicht willkommen heißt? Und man brauche Erdoğan bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme. Diese Abhängigkeit ist freilich eine selbst erarbeitete: Im Jahr 2016 hatte die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Erdoğan den umjubelten Flüchtlingsdeal geschlossen und sich weiteren Ärger erspart.

Wertepolitik ist eine Frage des Preises

Wertegebundene Politik ist also schlicht eine Frage des Preises und offenbar recht billig zu haben. Wie viel ist der Satz "die Sicherheit Israels ist Deutschlands Staatsräson" in diesem Marktumfeld wert? In Millionen Flüchtlingen, zum Beispiel?

Dass Deutschland Erdoğans jüngst aufgefrischten Israelhass weglächelte, war schon der erste Kniefall. Nun bleibt noch eine Hoffnung: Dass sich Scholz beim Besuch selbst keinen zweiten Kniefall leistet. Hier trifft immerhin ein Mensch mit erkennbarer Bühnenangst auf eine erprobte Rampensau. Die Chancen stehen schlecht.

Aber auf einen Handschlag nach einer Verbalattacke gegen Israel möge der Kanzler, wenn es das Marktumfeld denn erlaubt, bitte verzichten.

Deutsche Staatsräson ist nichts wert, wenn sie nichts kosten darf.

Quelle: ntv.de

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