"Stiller Mehrheit" Stimme geben Bürgerrat Ernährung steht nach "Lotterie" fest
21.07.2023, 18:44 Uhr Artikel anhören
Es ist vollbracht: Nach einem komplexen Auswahlverfahren steht er fest, der erste vom Parlament eingesetzte Bürgerrat. Er soll sich unter anderem mit Ernährungspolitik, Lebensmittelverschwendung und Tierwohlstandards befassen. Das stößt nicht in allen Parteien auf Begeisterung.
Die Zusammensetzung des ersten Bürgerrats, der dem Bundestag Vorschläge zur Ernährungspolitik machen soll, steht fest. Parlamentspräsidentin Bärbel Bas ermittelte in einer "Bürgerlotterie" die 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das Gremium soll am 29. September die Arbeit aufnehmen und das Thema "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben" behandeln. Bis 29. Februar 2024 soll es ein "Bürgergutachten" mit Empfehlungen vorlegen. Der Bundestag hatte die Einsetzung des Rats im Mai mit den Stimmen der Ampel-Koalition und der Linken beschlossen.
Bas sagte in Berlin, mit Bürgerräten sollten neue Wege ausprobiert werden. Sie schüfen Raum für Begegnungen unterschiedlicher Art, in dem jede und jeder persönliche Sichtweisen und Erfahrungen einbringen könne. "Diese Meinungsvielfalt bereichert die Demokratie und verschafft vor allen Dingen denen eine Stimme, die wir immer so als 'stille Mehrheit' bezeichnen." Bürgerräte ersetzten aber nicht die parlamentarische Auseinandersetzung. "Am Ende entscheiden und verantworten die Abgeordneten, welche Empfehlungen umgesetzt werden." SPD, Grüne und FDP hatten im Koalitionsvertrag angekündigt, "neue Formen des Bürgerdialogs" wie Bürgerräte nutzen zu wollen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben.
Es handelt sich um den ersten Bürgerrat, der durch das Parlament eingesetzt wurde. In der vergangenen Legislaturperiode hatte es bereits einen Bürgerrat zum Thema Außenpolitik unter Schirmherrschaft des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble gegeben. Dieses Projekt wurde aber von einem Verein organisiert.
160 zufällig gewählte Bundesbürger
Laut Einsetzungsbeschluss gehören dem Rat 160 Personen an, die per Zufallsprinzip aus allen Menschen über 16 Jahren mit Erstwohnsitz in Deutschland ausgewählt werden. Mit bestimmten Kriterien soll eine "ausgewogene Beteiligung" etwa nach Alter, Geschlecht, regionaler Herkunft, Ortsgröße und Bildungshintergrund erreicht werden. Abgebildet werden soll dabei auch der Anteil von Vegetariern und Veganern an der Bevölkerung.
Die Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer lief nach Angaben des Bundestags über ein Stufenverfahren. Im Juni wurden rund 19.300 ausgeloste Bürgerinnen und Bürger aus 84 ausgelosten Gemeinden zur Teilnahme eingeladen. Es kamen 2200 Rückmeldungen mit dem Wunsch zum Mitmachen. Daraus ermittelte ein Algorithmus 1000 mögliche Zusammensetzungen eines Bürgerrates nach den vom Bundestag bestimmten Kriterien. Bas loste nun eine dieser Varianten des Bürgerrats mit 160 Teilnehmern aus - dafür zog sie die drei Ziffern für die Zusammensetzung des Rates Nummer 187.
Unter den Mitgliedern des ausgelosten Bürgerrats sind nach Angaben der Organisatoren unter anderem 2,5 Prozent Veganer und 10 Prozent Vegetarier. Beim Bildungsstand seien zunächst mehr als 70 Prozent mit Hochschulabschluss unter den Interessenten gewesen - im ausgelosten Rat sind Akademiker nun mit rund 26 Prozent vertreten.
Inhaltlich soll sich das Gremium damit auseinandersetzen, wo der Staat in der Ernährungspolitik aktiv werden soll und wo nicht. Themen sind etwa auch Kennzeichnungen zu Umweltverträglichkeit und Tierwohlstandards, der Steuer-Rahmen bei Lebensmitteln und Lebensmittelverschwendung. Geplant sind drei Wochenendtreffen und sechs digitale Sitzungen.
CDU will kein "Alibi-Parlament"
Die 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten eine Aufwandspauschale von 100 Euro pro Sitzungstag in Präsenz und 50 Euro pro Sitzung in digitaler Form. Hotelkosten werden übernommen. Hinzu kommen Kosten für eine Stabsstelle Bürgerrat im Bundestag und für einen externen Dienstleister. Die Gesamtkosten lassen sich laut Bundestag bisher noch nicht genau beziffern. Im Haushalt 2023 sind maximal drei Millionen Euro für den Bürgerrat vorgesehen.
Von Union und AfD kam Kritik an dem neuen Gremium. CDU-Politikerin Gitta Connemann sagte in der ARD: "Es braucht kein Alibi-Parlament, das per Los zusammengewürfelt ist." Auch ihr Parteikollege Philipp Amthor warnte diese Woche, legitime Bemühungen um mehr Bürgerbeteiligung dürften "nicht zu einer fortschreitenden Erosion des Konzepts der repräsentativen Demokratie führen".
AfD-Mann Götz Frömming sagte, Deutschland habe längst Bürgerräte, nämlich die Parlamente in Bund und Ländern. "Wir fordern die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden statt dieser pseudodemokratischen Demokratiesimulation." Dagegen argumentierte Linke-Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte, Bürgerräte könnten ein Instrument sein, "um Interesse an der Politik und der Demokratie zu wecken und Partizipation zu ermöglichen". Es dürfe aber nicht sein, dass Empfehlungen dann im "Ampel-Streit" der Koalition untergingen.
Quelle: ntv.de, als/dpa/AFP