"Politischer Albtraum für Putin" Darum greift die Ukraine russische Raffinerien an
02.04.2024, 17:15 Uhr Artikel anhören
Rauchschwaden nach dem Angriff auf eine Raffinerie im russischen Rjasan Mitte März.
(Foto: via REUTERS)
Kaum eine Woche vergeht, ohne dass in Russland eine Ölraffinerie in Flammen steht. Die Ukraine greift die Anlagen mit Kampfdrohnen an. Dadurch steigt der Benzinpreis in Russland und Moskaus Truppen könnten gezwungen werden, Raketensysteme von der Front abzuziehen.
Aus begrenzten Möglichkeiten das Maximum herausholen: Darum geht es derzeit für die Ukraine, während internationale Waffen- und Munitionslieferungen stocken. Kiew nimmt seit einigen Wochen verstärkt russische Ölraffinerien ins Visier. Mit Kampfdrohnen greift die Ukraine systematisch Anlagen im Nachbarland an. Die meisten Raffinerien befinden sich in grenznahen Regionen, aber auch weiter entfernte Areale werden attackiert - zuletzt sogar in der Region Samara, etwa 800 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.
Das Ziel? Die Ukraine will mit den Attacken die russische Wirtschaft schwächen. "Unsere Aufgabe ist es, dem Feind die Ressourcen zu entziehen", wird eine Geheimdienstquelle in ukrainischen Medien zitiert.
Raffinerien seien für das Militär wichtig, analysiert Janis Kluge auf X. Der Wirtschaftswissenschaftler und Russland-Experte gibt zu bedenken, dass das russische Militär "natürlich keinen Mangel spüren" werde. Dennoch hält Kluge die ukrainischen Angriffe für sinnvoll, weil auf diesem Weg die Benzinpreise in Russland in die Höhe getrieben werden könnten. "Ein Benzinmangel wäre für Putin ein politischer Albtraum, denn er würde von allen gefühlt und diskutiert werden. Benzinpreise sind politisch, auch in Russland. Der Durchschnittsrusse ist nicht bereit, einen Preis für den Krieg zu zahlen", so Kluge.
Benzinpreise im März auf Sechsmonatshoch
Die Angriffe scheinen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Durch die Anschläge seien die russischen Raffineriekapazitäten um etwa 14 Prozent reduziert worden, schätzt die Nachrichtenagentur Reuters. Fast die Hälfte der etwa 30 großen Raffinerien in Russland seien angegriffen worden - teils mehrfach, einige wurden schwer beschädigt, verdeutlicht Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer, der das Kriegsgeschehen für ntv.de regelmäßig analysiert. Torbjörn Törnqvist, Chef der internationalen Ölhandelsfirma Gunvor Group, geht davon aus, dass pro Tag 600.000 Barrel der russischen Raffineriekapazitäten außer Kraft gesetzt werden.
In der Folge sind die Benzinpreise für russische Autofahrer im März tatsächlich auf ein Sechsmonatshoch gestiegen. Moskau setzte daraufhin ein weitreichendes Exportverbot für Benzin aus dem vergangenen Sommer wieder in Kraft, als mehreren russischen Regionen das Benzin ausgegangen war. Mittlerweile darf Benzin nur noch nach Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan und Mongolei exportiert werden.
Stattdessen ist Russland nun in der Rolle des Benzin-Einkäufers. Der Kraftstoffbedarf ist offenbar so groß, dass Russland Benzin aus dem Nachbarland Belarus ordert - 3000 Tonnen habe Moskau allein im März auf diesem Weg bezogen - fünfmal so viel im Februar, berichten Insider. Im Januar hatte Russland demnach noch überhaupt keinen Treibstoff aus Belarus gekauft.
Die Ölfirmen seien gezwungen, dem Risiko von Engpässen auf dem heimischen Markt entgegenzuwirken, schreibt das Institute for the Study of War (ISW) unter Berufung auf verschiedene Medienberichte. Laut Insidern seien Reparaturen an russischen Raffinerien infolge der ukrainischen Angriffe Schuld am Engpass, berichtet Reuters.
USA wollen Ende der Raffinerie-Attacken
Ein weiterer Punkt spreche für das Vorgehen der Ukrainer. Der Effekt der Raffinerie-Attacken sei lokal begrenzt, analysiert Kluge. Russische Ölexporte hätten mit den Raffinerien nichts zu tun. Das heißt, ein Preiseffekt sei bloß in Russland und nicht auf dem Weltmarkt zu spüren. Diese Einschätzung teilt Energieexperte Gennadi Ryabtsev: "Die Angriffe sind schmerzhaft und beeinträchtigen die Logistik, aber sie haben keinen signifikanten Einfluss auf das jährliche Raffinierungsvolumen."
Das sehen die USA jedoch anders. Laut "Financial Times" fürchtet Washington einen deutlichen Anstieg der Ölpreise als Folge der ukrainischen Militärschläge. Ein mögliches Szenario, "sollte die Ukraine auch große Exportterminals attackieren", sagt Energiemarkt-Analystin Helima Croft bei CNBC. Steigt der Benzinpreis in den USA, verschlechtern sich die Wiederwahl-Chancen von Präsident Joe Biden weiter. Deshalb würden die Amerikaner derzeit darauf drängen, dass die Ukrainer die Angriffe einstellen.
Die USA sehen zudem die Möglichkeit, dass Russland als Vergeltung die für den Westen entscheidende Energieinfrastruktur beeinträchtigen könnte, indem es eine Pipeline beschädigt - explizit genannt wird im Bericht die CPC-Pipeline, die Öl aus Kasachstan durch Russland in den Westen befördert.
Raketenabwehrsysteme zum Schutz?
Das russische Militär hat unterdessen noch keinen Weg gefunden, um den Attacken ein Ende zu setzen. Zwar werden etliche Kampfdrohnen abgefangen, einzelne finden aber regelmäßig den Weg zu ihrem Ziel. "Die Ukraine hat gerade erst an der Oberfläche dessen gekratzt, was sie hier tun kann", ist Experte Kluge überzeugt. "Russland wird Gegenmaßnahmen versuchen, aber wahrscheinlich weiterhin verwundbar bleiben."
Die Verwundbarkeit bezieht sich, wie es aussieht, nicht nur auf den heimischen Kraftstoffmarkt. Laut Reuters erwägt Russland, seine Raffinerien durch Raketenabwehrsysteme abzusichern. Das hätte wahrscheinlich zur Folge, dass die Ölanlagen besser geschützt wären, gleichzeitig aber wichtige Raketensysteme an der Front fehlen würden, so Reisner.
Dafür spricht auch, dass Russland zuletzt den Export von zwei Langstrecken-Flugabwehrraketen nach Indien von diesem Jahr auf 2026 verschoben hat - wahrscheinlich, weil Moskau die Systeme selbst benötigt, um die Raffinerien besser zu schützen.
"Die ukrainischen Drohnenangriffe auf Ziele in Russland erhöhen wahrscheinlich den Druck auf die verfügbaren russischen Luftverteidigungsanlagen", analysiert das Institute for the Study of War. Luftwaffenstützpunkte, Häfen und Militärquartiere könnten zu leichteren Zielen für die Ukrainer werden.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.
Alle Folgen finden Sie in der ntv-App, bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts und Spotify. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.
Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an podcasts@ntv.de
Quelle: ntv.de