Wer hört auf wen? Das ist der Gipfel
21.06.2007, 07:10 UhrIm Zeichen des immer heftigeren Streits um einen neuen EU-Verfassungsvertrag hat das zweitägige EU-Gipfeltreffen in Brüssel begonnen. Bundeskanzlerin und EU-Ratspräsidentin Angela Merkel (CDU) appellierte zum Auftakt an die Kompromissbereitschaft der Gipfelteilnehmer. "Ich glaube, dass die Menschen nicht nur in Europa auf uns schauen", sagte sie. "Wir müssen alles daransetzen, zu einer Einigung zu kommen, damit wir die großen Probleme Arbeit, Wohlstand und Sicherheit angehen können."
Merkel will versuchen, einen Kompromiss der 27 EU-Länder zu vermitteln. Vor allem Polen und Großbritannien machen dagegen Bedenken geltend. So unterstrich Polen wenig vor Beginn des Gipfels, nicht auf seine Forderung nach dem Quadratwurzelsystem als Grundlage des künftigen Stimmengewichts im europäischen Rat zu verzichten. "Wir gehen mit unserem Vorschlag der Quadratwurzel auf den Gipfel", bekräftigte der polnische Chefunterhändler Marek Cichocki.
Blair: "Harte Verhandlungen"
Der britische Regierungschef Tony Blair unterstrich zwar seinen Einigungswillen. Zugleich erklärte er jedoch: "Dies werden sehr harte Verhandlungen sein." Die britischen Bedenken bei dem vorgeschlagenen neuen EU-Vertrag sind zahlreich. Blair hat Probleme mit der Verbindlichkeit der Grundrechtecharta und möglichen Beschränkung der außenpolitischen Kompetenzen seines Landes. Er will weniger EU-Kompetenz in der Justiz- und Innenpolitik. Seine Bedenken müssten "voll ausgeräumt werden".
Der dienstälteste EU-Regierungschef, Jean-Claude Juncker aus Luxemburg, erhöhte nochmals den Druck auf Polen und Großbritannien. Ohne einen neuen EU-Vertrag werde es keine Aufnahme neuer Mitglieder in die Union geben können. Beide Länder gehören zu den stärksten Befürwortern der Aufnahme neuer Mitglieder - Großbritannien im Falle der Türkei, Polen mit Blick auf seine östlichen Nachbarn. Juncker warnte vor einer Spaltung Europas, wenn es nicht zu einer Einigung über die Reform komme. Die Chancen auf einen Kompromiss schätzte er auf 50 zu 50.
EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso zeigte sich indes verhalten optimistisch. Er rechne inzwischen mit einer Einigung am Ende schwieriger Verhandlungen, sagte er. "Denn sonst verlieren wir alle."
Kaczynski sorgt für Eklat
Unmittelbar vor Beginn des Gipfels hatte Polens Regierungschef Jaroslaw Kaczynski seine umstrittenen Forderungen nach mehr Stimmengewicht seines Landes in der EU noch einmal untermauert. Als Begründung führte er dabei die historische Schuld der Deutschen an und verursachte damit heftige Irritationen.
Polen dürfe bei Abstimmungen in der EU nicht wesentlich weniger Stimmen erhalten als große Mitgliedstaaten wie Deutschland, bekräftigte Kaczynski in einem Interview der "Financial Times". "Wir verlangen nur das, was uns genommen wurde" sagte er auch im staatlichen polnischen Rundfunk. Zur Begründung erklärte Kaszynski: "Wenn Polen nicht die Jahre 1939-1945 durchgemacht hätte, wäre Polen heute ein Land mit einer Bevölkerung von 66 Millionen."
Während des Zweiten Weltkriegs, der mit einem deutschen Überfall auf Polen begann, waren etwa 6,5 Millionen Menschen getötet worden, darunter drei Millionen polnischer Juden. Das entspricht einem Anteil von einem Viertel der Vorkriegsbevölkerung. Polen hat derzeit knapp 38 Millionen Einwohner.
Gegen Kaczynskis Ausführungen bezog unter anderem Dänemarks Regierungschef Anders Fogh Rasmussen Stellung: "Die Idee, die heutige Entscheidung zur Stimmgewichtung mit dem Zweiten Weltkrieg zu begründen, ist absurd." Juncker sagte im Handelsblatt": "Die bitterbösen Argumente, die in dieser Debatte von polnischer Seite aus geführt werden, sind nicht akzeptabel."
Polens Forderung nur als Fußnote
In einer Beschlussvorlage für den Gipfel spricht sich die Ratspräsidentschaft für die "Einführung des Systems der Abstimmung mit doppelter Mehrheit" aus, die auch im Verfassungsentwurf vorgesehen war. Zur Kritik Polens und Tschechiens an diesem Verfahren heißt es in einer Fußnote: "Zwei Delegationen" seien der Auffassung, eine demokratischere Entscheidungsfindung im Rat würde am besten "mit einer degressiven Proportionalität der Stimmen" erreicht.
Der Obmann im EU-Ausschuss, Michael Stübgen (CDU), sagte bei n-tv, dass Deutschland durch die EU-Beitragszahlungen stark belastet werde. Deshalb müsse klar sein, dass "wir aber auch ausreichend Gewicht bei den Entscheidungen haben müssen, entsprechend unserer Bevölkerungszahl. Und ich glaube, das werden die Polen auch verstehen." Werner Hoyer, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP, sagte bei n-tv, in der Frage der doppelten Mehrheit könne man den Polen nicht entgegenkommen.
"Reformvertrag" statt Verfassung
Die EU-Mitgliedsstaaten konfrontieren die Ratsvorsitzende Merkel mit rund 15 Forderungen zur EU-Reform. Neben der vor allem von Polen bemängelten Stimmenverteilung geht es vor allem um die europäische Grundrechte-Charta sowie die künftige Außen- und Sicherheitspolitik der EU.
Als neuen Titel für den EU-Verfassungsvertrag schlägt die Bundesregierung in der Beschlussvorlage für den Gipfel "Reformvertrag" vor. Auch staatsähnliche Symbole wie Hymne und Flagge sind wegen der Bedenken im Text nicht verankert.
Aus demselben Grund schlägt die Bundesregierung vor, auf die Umbenennung des bisherigen EU-Außenbeauftragten in Außenminister zu verzichten. Wie das Amt künftig bezeichnet werden soll, lässt sie offen: "Der 'Außenminister der Union' wird XXX genannt", heißt es in dem Verhandlungsvorschlag. Die Rolle des Außenbeauftragten soll aber aufgewertet werden. Die Charta der Grundrechte soll anders als im Verfassungsentwurf im neuen Vertrag nicht abgedruckt werden.
Die abschließenden Verhandlungen über den neuen EU-Vertrag sollen in der zweiten Jahreshälfte in einer Regierungskonferenz geführt werden, damit er bis zur Europawahl 2009 in allen 27 Staaten ratifiziert wird.
Euro für Zypern und Malta
Unterdessen stimmten nach dem Europaparlament nun auch die EU-Staats- und Regierungschefs der Euro-Einführung in Malta und Zypern zum 1. Januar 2008 zu. Damit wird die Euro-Zone auf 15 Länder mit rund 320 Millionen Menschen erweitert.
Der Gipfel beglückwünschte die beiden Mittelmeerinseln zur Erfüllung der Maastrichter Stabilitätskriterien. Beide Länder waren mit der großen Erweiterungswelle zum 1. Mai 2004 zur Union gestoßen. Die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank hatten Malta und Zypern im Mai attestiert, dass sie ihre Neuverschuldung und ihre Inflation im Griff haben.
Quelle: ntv.de