Mittelschicht verliert Das neue Gesicht der Armut
15.09.2008, 10:10 UhrEin Haus, ein Auto, einen Fernseher. Sie haben alles, was man für ein durchschnittliches amerikanisches Familienleben haben muss. Sie rackern bis zum Umfallen, und es reicht trotzdem nicht. Der Kühlschrank ist leer, das Konto überzogen. Für fast ein Viertel der amerikanischen Mittelschicht gilt längst nicht mehr das Motto: "Wer ranklotzt, kann in diesem Land was werden." Sie schuften und sind trotzdem "working poor", arbeitende Arme. Ein Heer von Opfern der Wirtschaftskrise stellt in den USA den Armutsbegriff auf den Kopf.
Vicky Gardner beispielsweise. Jeden Morgen setzt sie ihre beiden Kinder in einer Schule am Rande der Hauptstadt Washington ab. Wer die gut gekleidete 44-Jährige in ihrem Mittelklasse-Wagen sieht, denkt nicht, dass die Altenpflegerin noch vor ihrer Arbeit einen Abstecher zur Lebensmittelausgabe einer Hilfsorganisation macht. "Ich muss da sein, bevor das frische Gemüse vergriffen ist", sagt sie. "Der Andrang ist groß. Es gibt immer mehr Familien, die ihre Kinder ohne fremde Hilfe nicht mehr gesund ernähren können."
"Fürs Essen bleicht nichts übrig"
Nach der Arbeit im Heim jobbt Vicky als Putzhilfe. Sie und ihr Mann, ein Schreiner, kommen auf 3500 Dollar (knapp 2500 Euro) im Monat - und damit gerade über die Runden. "Die Raten fürs Haus, die Autos, die wir für unsere Jobs brauchen, Gas, Benzin und das Schulgeld für die Kinder - das kostet inzwischen soviel, dass fürs Essen nichts übrig bleibt."
Reuben Gist von der Lebensmittelbank "Capital Area Foodbank" wundert das nicht. Bei einer Inflationsrate, die im Sommer schon bei fünf Prozent lag, bekommt man weniger fürs Geld. Milch und Brot sind seit Jahresbeginn um bis zu 40 Prozent teurer geworden. "Jeder vierte, der in unsere Lebensmittelausgaben kommen, besitzt ein Eigenheim und verdient bis zu 80.000 Dollar im Jahr", sagt Gist. Rund 400.000 Menschen aus dem Großraum Washington, einer der wohlhabendsten, aber auch teuersten Gegenden der USA, profitieren von der "Foodbank".
Wer hier arbeite, sagt Gist in seinem Lager zwischen gestapelten Cornflakes-Kartons, Suppendosen und Salatköpfen, der wisse: Armut hat in Amerika ein neues Gesicht. "Sie lässt sich nicht mehr in das weit verbreitete Bild des heruntergekommenen Obdachlosen pressen." Das sind 18 Prozent der Bedürftigen. "Die neuen Armen aber sehen aus wie du und ich: Gut gekleidet fahren sie zur Arbeit oder bringen ihre Kinder zur Schule. Wenn sie nach Hause kommen, ist nichts zu essen da." Die "Foodbank" im ärmlichen Südosten von Washington versorgt 700 Hilfseinrichtungen in der Umgebung.
Armutsbegriff überstrapaziert
Längst hat der Wohlstands-Schwund in der Mittelschicht eine Debatte in den USA ausgelöst: Können Menschen unter derart bequemen Bedingungen tatsächlich als arm gelten? fragt etwa die konservative Denkfabrik "Heritage Foundation". Ihrer Ansicht nach wird der Armutsbegriff überstrapaziert. Ein Experte der Stiftung, Robert Rector, erklärte kürzlich: "Nie zuvor in der Geschichte der USA ist der Lebensstandard der sogenannten Armen so hoch gewesen wie zur Zeit." Dreiviertel aller typischen Armen hätten ein Auto, eine Klimaanlage, einen Fernseher und über ein Drittel besitze einen Geschirrspüler. Über 40 Prozent hätten ein eigenes Haus und fast doppelt so viele mindestens zwei Zimmer für sich. Gehungert werde nicht wirklich. 73 Prozent der Betroffenen sagten sogar von sich selbst, sie hätten immer ausreichend zu essen, argumentiert Rector.
"Foodbank"-Manager Gist bringt so etwas auf die Palme: "Hunger kann hier doch nur als Chiffre stehen", meint er. "Selbstverständlich gibt es in unserem Land genug zu essen. Die Frage ist: Wer hat Zugang zu Lebensmitteln?" Menschen, die einmal für sich selbst sorgen konnten, könnten es heute nicht mehr, weil sie ihren Job verloren haben oder unter weitaus schlechteren Bedingungen arbeiten müssten. "Viele Firmen zahlen Mindestlöhne von 7,25 Dollar pro Stunde - ohne Sozialleistungen." Kein Wunder, dass sich fast die Hälfte der Amerikaner keine Krankenversicherung leisten könne.
Veraltete Kriterien
Die US-Statistik zählte 2006 zwölfeinhalb Millionen US-Bürger unterhalb der Armutsgrenze. Sie verläuft für einen Single bei 10.294 Dollar im Jahr. Für eine vierköpfige Familie wird das Doppelte veranschlagt. Institute wie die Rockefeller-Stiftung monieren, dass die Maßstäbe zur Erfassung der Armut nicht mehr angepasst wurden, seit Präsident Lyndon B. Johnson in den 60er Jahren den "Kampf gegen die Armut" erklärte. Eine Rolle spielen dabei hauptsächlich die veranschlagten Lebensmittelausgaben einer Familie. "Doch was ist etwa mit den drastisch gestiegenen Unterhaltskosten für Häuser?", fragt Rebecca Blank vom Washingtoner Brookings Institut.
Ein Umdenken fordert auch Jared Bernstein vom liberalen "Economic Policy Institute". Der Zeitung "USA Today" sagte Bernstein: "Viele Berufe, mit denen man noch vor zehn Jahren gut leben konnte, sind heute zu Niedriglohnjobs geworden." Immer mehr Menschen mit Vollzeit-Jobs kommen ohne Hilfe nicht über die Runden. "Wir müssen sicherstellen, dass der Amerikanische Traum wieder lebbar wird. Wer arbeitet, der soll auch davon leben können."
Quelle: ntv.de, Antje Passenheim, dpa