Politik

Steinbrück stellt sich in der "Wahlarena" Der Herr Lehrer und die Wähler-Meute

Aushilfslehrer Steinbrück in seinem Element: Auch nach der Sendung diskutiert er mit den Zuschauern.

Aushilfslehrer Steinbrück in seinem Element: Auch nach der Sendung diskutiert er mit den Zuschauern.

(Foto: dpa)

Wenige Tage vor der Wahl kann ein einziges Wort entscheidend sein. Peer Steinbrück wagt sich dennoch in die "Wahlarena". 75 Minuten lang prasseln Fragen und Forderungen auf den SPD-Kanzlerkandidaten ein. Steinbrück doziert, geht auf die Menschen zu wie ein Pädagoge - und legt sich gleich bei der ersten Frage fast auf die Nase.

Wie man einen erdverwachsenen Kanzlerkandidaten überrumpelt? Man stellt ihm eine Frage, die er so ganz sicher nicht erwartet hat. Über die er vermutlich nicht einmal in schlaflosen Vollmond-Nächten nachdenkt. Und: Man stellt diese Frage genau dann, wenn sich der Kanzlerkandidat noch gar nicht warm reden konnte, also ganz zu Beginn einer Fernsehsendung. So geschieht es Peer Steinbrück, dem Spitzenkandidaten der SPD, am Mittwochabend in der "Wahlarena" der ARD.

Der erste Fragesteller, ein Mann, der seit 25 Jahren im Außendienst arbeitet, schafft es, Peer Steinbrück für einen kurzen Augenblick die Farbe aus dem Gesicht zu treiben. Seine Frage: Was wollen Sie als Kanzler unternehmen, damit auf deutschen Autobahnen weniger Geisterfahrer unterwegs sind? Satzbausteine zum Mindestlohn, zur Energiewende oder dem Unsinn einer Koalition mit den Linken lägen bereit, doch sie helfen Steinbrück in diesem Moment nicht.

"Wahlarena", du unberechenbares Biest

Mit Gesten und ein paar Schritten in Richtung der Fragesteller versucht Steinbrück, Offenheit zu demonstrieren.

Mit Gesten und ein paar Schritten in Richtung der Fragesteller versucht Steinbrück, Offenheit zu demonstrieren.

(Foto: dpa)

Der 66-Jährige füllt drei Sekunden mit dem Satz: "Sie überraschen mich mit dieser Frage". Doch dann kommt es doch, das Eingeständnis, das keinem Politiker so leicht über die Lippen geht: Ich habe keine Ahnung. Steinbrück windet sich und entschuldigt sich förmlich, dass er nun nicht jeden Falschfahrer persönlich in die richtige Richtung lenken könne. Schließlich kündigt er an, wie vom Fragesteller dankenswerterweise vorgeschlagen, man könne ja über Warntafeln an den Autobahnauffahrten nachdenken. Uff, geschafft, abgehakt. Und weiter zum nächsten Thema.

Die "Wahlarena", der sich Kanzlerin Angela Merkel schon Montag stellen musste, ist ein unberechenbares Biest. Nicht Moderatoren stellen langweilige Fragen zu den aktuellsten Umfragewerten, sondern 150 echte Menschen sitzen im improvisierten Fernsehstudio in Mönchengladbach und erzählen von echten Problemen. Eigentlich die passende Bühne für Steinbrück, der zwar spröde daher kommen mag, aber dennoch griffiger und nicht ganz so staatsmännisch-unerreichbar wirkt wie Merkel.

Der Oberstudiendirektor der SPD

Steinbrück gestikuliert und dreht sich zum Publikum, das in einer 360-Grad-Arena rundherum sitzt. Er löst sich vom gläsernen Stehtisch und bewegt sich auf die Menschen zu. Wie ein Lehrer dozierend läuft er immer wieder in die Richtung der Leute, er versucht zu überzeugen, mitzunehmen und vor allem zu gefallen. Doch den Durchbruch bringt die Lehrer-Nummer nicht, hin und wieder gelingt dem Oberstudiendirektor der SPD ein kleiner Scherz, doch unterm Strich tragen Fragesteller Probleme vor und der diplomierte Volkswirt Steinbrück zitiert aus dem Wahlprogramm, was nach sozialdemokratischer Logik die einzig wahre Lösung ist.

Die spektakulärste Neuigkeit verdient schließlich ihren Namen nicht: Steinbrück will bei einem Wahlsieg ganz schnell eine Reform des Pflegesystems. 125.000 bis 130.000 neue Pflegekräfte müssten eingestellt werden - finanziert von allen Beitragszahlern. Die Beiträge zur Pflegeversicherung sollen um 0,5 Prozentpunkte steigen. Auch Kanzlerin Merkel rechnet damit, dass die Beiträge steigen werden, um die Pflege von immer mehr alten Menschen finanzieren zu können.

Endlich geht's mal um Gerechtigkeit

Richtig zum Aufblühen kommt Steinbrück nur beim Leib- und Magenthema der SPD - der sozialen Gerechtigkeit. Beispiel Gesundheitswesen: Scheinbar ehrlich echauffiert, schildert Steinbrück das Beispiel einer AOK-Mitarbeiterin, die testweise bei einem Hals-Nasen-Ohrenarzt anrief. Als gesetzlich Versicherte bekam sie trotz Ohrenentzündung einen Termin erst in drei Wochen, als privat Versicherte schon zwei Tage später.

Ach ja, Moderatoren gab es auch: Die Herren Cichowicz und Schönenborn waren aber nur fürs Protokoll zuständig.

Ach ja, Moderatoren gab es auch: Die Herren Cichowicz und Schönenborn waren aber nur fürs Protokoll zuständig.

(Foto: dpa)

Oder Beispiel Rente: Ein selbstständiger Rechtsanwalt aus dem Publikum schlägt vor, alle Bürger und nicht nur Freiberufler sollten in Versorgungswerke statt in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen. Doch Steinbrück wiegelt entschieden ab, erzählt einen Beispielfall aus dem Bekanntenkreis seiner Frau, wo eben ein solches Versorgungswerk das Geld am Kapitalmarkt angelegt und verloren hat. "Verzockt!", wettert Steinbrück und pocht darauf: "Keine Infragestellung der umlagefinanzierten Rente!"

Plötzlich: ein echter Lehrer

Doch Steinbrück blieb in so manchem Punkt schwammig und wich - ein typischer Trick der politischen Rhetorik - durch einen möglichst breiten Redeschwall dem eigentlichen Kern der Frage aus. Ein Politiklehrer aus dem Publikum hakt beim Vertretungslehrer Steinbrück nach, was denn nun die Deutschen für die Rettung und den Wiederaufbau Griechenlands zahlen müssen. Doch der SPD-Kandidat spricht zunächst von Visionen und fordert zielgerichtete Investitionen in die Zukunft der Krisenstaaten.

"Es fehlt Wind unter den Flügeln, damit diese Länder wieder hochkommen", lautet der steinbrücksche Allgemeinplatz, der den einlullenden Phrasen aus der Wortwerkstatt Dr. Merkel Konkurrenz machen könnte. Als der echte Lehrer aus dem Publikum noch einmal nachfragt, erzählt der SPD-Politiker von Treffen mit griechischen Oberbürgermeistern und welche Chancen der Tourismus und die maritime Wirtschaft böten. Alles Felder, auf denen investiert werden müsste - doch der Antwort auf die Frage, woher das Geld denn nun kommt, weicht er aus, bis das nächste Thema zur Sprache kommt.

Und was ist mit den Hebammen?

Was von der Wahlarena bleibt, ist vor allem die Erkenntnis: Es gibt wahnsinnig viele wichtige Themen zwischen kriselnden Staaten, schlechten Löhnen und steigenden Energiepreisen, die im Wahlkampfgetöse einfach untergehen. Horrend hohe Beiträge zur Haftpflichtversicherung bei selbstständigen Hebammen etwa - für die Betroffenen ein Desaster.

Eine Flut verschiedenster Fragen prasselt in den 75 Minuten auf Steinbrück ein und beweist, dass jede einzelne Wählerin und jeder einzelne Wähler seine Probleme mit sich herumträgt und von der Politik sofort Lösungen erwartet. Ein solches Forum - englisch Townhall-Meeting - erdet Politiker und führt auf, wie vielfältig die Sorgen der Menschen sind. Doch die Veranstaltung zeigt auch: Nicht alle Probleme lassen sich mit einer sofortigen Brachialreform beseitigen. Wie die Geisterfahrer, die sich auch mit noch so großen Warnschildern in der Fahrtrichtung vertun können und unschuldige Menschen in den Tod reißen.

Quelle: ntv.de

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