Politik

Sorge vor Islamismus in Tunesien "Der Westen ist zu ungeduldig"

Einige Tunesier beklagen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen.

Einige Tunesier beklagen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen.

(Foto: AP)

Im Westen wächst nach den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung die Sorge vor einem Rückschritt in Tunesien. Die Wahlgewinner, die islamistische Ennahda, schlägt zwar moderate Töne an. Liberale Tunesier fürchten jedoch um ihre Freiheitsrechte. in Sidi Bouzid, einer Hochburg der Revolution gegen den im Januar gestürzten Diktator Ben Ali, künden vom Unruhepotenzial im Land. Zeichen einer Spaltung zwischen religiösen und säkulären Kräften sei der Gewaltausbruch jedoch nicht, meint Klaus Loetzer im Gespräch mit n-tv.de. Der Leiter des Auslandsbüros Tunesien und Algerien der Konrad-Adenauer-Stiftung betrachtet die Entwicklung der islamistischen Ennahda mit Skepsis, mahnt den Westen allerdings zu mehr Geduld mit der jungen Demokratie.

n-tv.de: Wie schätzen Sie die Lage in Tunesien nach den gestrigen Unruhen ein?

Das angegriffene Büro der Ennahda in Sidi Bouzid.

Das angegriffene Büro der Ennahda in Sidi Bouzid.

(Foto: AP)

Klaus D. Loetzer: Ich würde das gar nicht als Unruhen bezeichnen. Von außen hört sich das immer so groß an, aber die Situation im Landesinneren war schon immer angespannt. Ein Kollege von der GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Hinweis d. Verf.) hat mir erzählt, wenn die mit einem Fahrzeug mit Regierungsnummernschild nach Sidi Bouzid gekommen sind, waren sie sofort umringt von Menschen. Da war immer eine gewisse gewaltbereite Situation.

Was die Ausschreitungen betrifft, sollte man die nicht einfach abtun. Die Lokalverwaltung wurde angezündet, auch das Ennahda-Büro wurde angegriffen, inzwischen brennt auch das Gerichtsgebäude. In der Region herrscht nach wie vor eine große Unzufriedenheit. Das ist aber nicht vergleichbar mit den Ereignissen, die zur Revolution geführt haben. Es ging darum, dass Al Aridha ("Petition für Gerechtigkeit und Entwicklung") mit 19 Sitzen nachträglich aus der verfassungsgebenden Versammlung ausgeschlossen wurde. Diese Partei hatte in Sidi Bouzid einen sehr hohen Stimmenanteil erlangt.

Wirft die nachträgliche Annullierung des Ergebnisses der Partei nicht ein schlechtes Licht auf die Wahlen?

Generell sind die Wahlen sehr gut organisiert worden, vor allem wenn man bedenkt, dass in Tunesien noch nie freie Wahlen abgehalten worden sind. Es gibt keinen Anlass, etwas anderes zu behaupten. Im Fall Al Aridhas führte die Wahlbestimmung, dass keine Partei von außen finanziert werden darf, zum Ausschluss. Der Vorsitzende der Partei  Hechmi Haamdi hat nie tunesischen Boden betreten. Damit kamen auch alle Gelder im Wahlkampf von außen, und das verstößt nun einmal gegen die Wahlbestimmungen.

Zurück zu den Ausschreitungen: Sie haben es angesprochen, auch Büros der Wahlsieger von der als islamistisch eingestuften Ennahda-Partei sind attackiert worden. In den westlichen Medien drücken einige Kommentatoren deswegen ihre Sorge vor einer Spaltung des Landes in religiöse und säkuläre Kräfte aus.

Das ist genau die falsche Interpretation. Nochmal: Die Leute sind sehr schnell auf die Straße zu bringen. Sie haben Blockaden errichtet, Reifen haben gebrannt, später gab es Übergriffe auf Gebäude der Regionalverwaltung und Ennahda. Die Demonstranten haben auch "Die Revolution gehört uns" gerufen. Aber: Die Partei "Petition für Gerechtigkeit und Entwicklung" überholt die Ennahda noch rechts. Der Chef dieser Bewegung hat versprochen, den Frauen ein Gehalt zu zahlen, damit sie zuhause bleiben. Die sind, wenn sie so wollen, noch religiöser als Ennahda. Dieser angebliche Gegensatz zwischen religiösen und säkulären Kräften lässt sich hier also gar nicht nachweisen. Das ist eine Ente, die aber ins Bild der Berichterstattung passt.

Lassen Sie uns über die Ennahda reden. In den Medien wird sie stets mit dem Attribut "islamistisch" versehen. Was heißt das konkret? Mit welchen Forderungen ist die Partei in die Wahlen gegangen?

Das ist gar nicht so einfach zu sagen. Über die Bezeichnung "islamistisch" lassen sich ganze Bücher schreiben – was "Islamismus" ist, was "islamistisch" ist, was "moderater Islamismus" ist. Mit dem Begriff des "moderaten Islamismus"  charakterisieren viele Leute die Ennahda, ich selber halte nichts  davon. Ich habe zwei Jahre lang in Saudi-Arabien den Wahabismus erlebt, ich habe in Westafrika gearbeitet, wo ich gesehen habe, wie der schwarze liberale Islam durch Petro-Dollars radikalisiert wurde. Die Ennahda, und mit der Einschätzung stehe ich nicht allein, hat in ihrem Wahlprogramm nicht ihre wahren Motive offengelegt. Da ist die Rede von Pluralismus und ihr Führer Ghannouchi hat sich für das türkische Modell der Trennung von Staat und Religion ausgesprochen. Die Frauen sollen nicht aus dem öffentlichen Raum zurückgedrängt werden, auch ein Kopftuchzwang oder ein Alkoholverbot sind angeblich nicht geplant. Die Tunesier kennen diese Beschränkungen auch nicht, viele moderne, sich als gute Muslime betrachtende Gläubige haben einen Lebensentwurf, der unserem europäischen sehr nahe kommt.

Das Wahlprogramm klingt also tatsächlich moderat.

Ja, aber ich glaube, man muss nicht danach fragen, was die Ennahda in ihrem Wahlprogramm gefordert hat, sondern danach, was sie wirklich wollen. Und da bin ich – wie gesagt auch durch meine biographische Prägung – sehr kritisch. Ich meine, dass der politische Islam nicht in Legislaturperioden denkt, sondern in Zeiträumen von zehn, zwanzig oder mehr Jahren. Wenn Ennahda, wie kolportiert wird, von arabischen Staaten wie Saudi-Arabien unterstützt wird, dann wollen die irgendwann ihr "Return of Investment" sehen. Selbst wenn es Ghannouchi ernst meint mit seinen Aussagen, wird er dann bedrängt. Die Basis der Bewegung ist ja wesentlich radikaler, von dort vernimmt man auch schon Kritik an Ghannouchi, weil er zu liberal sei.

Moderat oder nur zurückhaltend? Rachid Ghannouchi ist die zentrale Figur der Ennahda.

Moderat oder nur zurückhaltend? Rachid Ghannouchi ist die zentrale Figur der Ennahda.

(Foto: dpa)

Zeigt das Wirkung?

Er hat jetzt schon gesagt – und man muss immer beachten, es ist erst die verfassungsgebende Versammlung gewählt worden – Tunesien soll mehr Touristen aus den Golfstaaten anziehen. Muslime sollen Hotels und Ressorts vorfinden, in denen kein Alkohol ausgeschenkt werden soll. Außerdem hat er die Verbreitung des Französischen als "Pollution", also eine Art Umweltverschmutzung, gebrandmarkt. Tunesien ist durch die Zweitsprache Französisch eng an Europa gebunden. Nun wird allerdings bereits infrage gestellt, ob das Französische noch opportun ist. Es steht also zu erwarten, dass Französisch als erste Fremdsprache abgeschafft wird, sollte die Ennahdam wie von ihnen selbst gefordertm das Bildungsministerium übernehmen.

Noch keine fünf Tage sind seit dem Wahlsieg vergangen, und schon zeichnet sich dieser Weg ab. Den Tunesiern macht das Angst. Die überwiegende Mehrheit hat nicht Ennahda gewählt. Säkuläre Muslime fragen sich, ob sie ein Kopftuch aufsetzen müssen, ob sie sich noch im Badeanzug an den Strand trauen können. Ich habe viele Menschen getroffen, die sich Gedanken machen, ob sie weiterhin so frei leben können, wie sie es gewohnt sind. Seit Ende der 50er Jahre  sind Frauen formal gleichgestellt. Sie konnten die Scheidung einreichen und wurden bei Erbsachen behandelt wie die Kinder auch. Diese Errungenschaften stehen zur Disposition.

Hält die junge tunesische Demokratie diese erste Belastungsprobe aus?

Klaus D. Loetzer leitet das Auslandsbüro Tunesien und Algerien der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Klaus D. Loetzer leitet das Auslandsbüro Tunesien und Algerien der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Tunesien hat mit der Revolution ein Zeichen gesetzt, und auch mit der Organisation der Wahlen sieben Monate nach dem Fall des Regimes von Ben Ali in einer Atmosphäre von Transparenz und Begeisterung. Ennahda muss man zugute halten, dass Ghannouchi angeboten hat, in der verfassungsgebenden Versammlung eine Art Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Das scheint einer demokratischen Partei würdig zu sein. Zumal es hier keine Kultur der Koalitionen wie in Deutschland gibt. Dass es hier schon im Gespräch ist, da sind sie hier in kurzer Zeit sehr weit gekommen.

Auch die Wahlentscheidung an sich beweist, das sich eine demokratische Kultur entwickelt: Man ist immer davon ausgegangen, dass die Demokratische Fortschrittspartei (PDP) die zweitstärkste Partei würde. Sie sind mit 7,8 Prozent abgestraft worden. Ihr Parteichef Najib Chebbi hatte noch Anfang des Jahres erklärt, er sei bereit, seine Partei in ein Bündnis mit Ben Ali zu führen. Alle, die etwas mit dem alten Regime zu tun hatten, mussten eine Niederlage hinnehmen. Das sind ganz politische Entscheidungen einer Wählerschaft, die das nie hat trainieren können. Die Demokratie hat hier schon mehrere Tests bestanden. Jetzt geht es darum, dass die Menschen für ihre Freiheiten kämpfen müssen – natürlich nicht mit der Waffe in der Hand, aber aktiv, und nicht so unpolitisch wie weite Teile der Mittelklasse, die nicht zur Wahl gegangen sind.

Wenn wir den großen Rahmen betrachten: Ist der Wahlsieg der Ennahda ein Menetekel für die Länder der Arabellion oder sind die Wahlen an sich ein gutes Vorbild für Länder wie Ägypten?

Ich würde die Wirkung der tunesischen Wahlen  nicht überschätzen. Ägypten ist bei der Revolution zwar Tunesien gefolgt, aber da war die Zeit auch reif. Wenn die Islamisten jetzt hier ihr Programm durchziehen sollten, was ich ihnen unterstelle, dann würden die Kräfte in Ägypten davon sicher nicht geschwächt. Aber die Muslimbrüder dort kümmern sich recht wenig um Ennahda. Ich glaube eher, dass die radikale Basis der Ennahda von den ägyptischen Muslimbrüdern beflügelt wird als umgekehrt. Man muss das Größenverhältnis beachten. Die Auswirkung der tunesischen Entwicklung wird vom Westen hochstilisiert. Anders sieht es aus, wenn es um konkrete Hilfe geht. Politiker, die aus dem Westen kommen und ihre Bewunderung für die Jasminrevolution aussprechen, kann hier keiner mehr hören. Tunesien ist allerdings weiter auf seine guten Beziehungen zu  Europa angewiesen, wenn die Wirtschaft funktionieren soll. Und darum geht es: Arbeitsplätze. Wenn hier keine Arbeitsplätze geschafft werden, können wir die Demokratie abschreiben.

Sollte der Westen Tunesien mehr Vertrauen entgegenbringen?

Der Westen ist definitiv zu ungeduldig. Wir erwarten zu viel. Nehmen Sie doch die deutsche Geschichte. Der erste demokratische Versuch in der Weimarer Republik ist fürchterlich gescheitert, weil es eine Demokratie ohne Demokraten war. Wo sollen denn in Tunesien all die Demokraten herkommen? Eine Demokratie braucht starke Institutionen, das braucht Zeit. Es gibt eben noch 60 inkriminierte  Richter, die noch nicht ausgetauscht wurden. Das kennen wir: 20 Jahre nach der DDR finden sich in Polizei und anderen Institutionen immer noch Menschen, die besser ausgetauscht worden wären. Aber diese Erfahrung muss Tunesien selbst machen. Da helfen romantische Bilder von der Jasmin-Revolution nicht, sondern nur tägliche Arbeit, um die erreichten Freiheiten zu verteidigen.

Mit Klaus D. Loetzer sprach Christian Bartlau     

Quelle: ntv.de

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