Politik

Was tun mit Timoschenko? Der gordische Knoten von Kiew

Julia Timoschenko, bald Patientin an der Charité?

Julia Timoschenko, bald Patientin an der Charité?

(Foto: picture alliance / dpa)

EU-Politiker und ihre ukrainischen Kollegen stehen derzeit vor einem fast unlösbar scheinenden Problem: Ohne eine Freilassung der wegen Amtsmissbrauchs inhaftierten Julia Timoschenko kann das geplante Assoziierungsabkommen nicht auf den Weg gebracht werden. Den rettenden Ausweg verbaut nun - zumindest vorläufig - ausgerechnet eine Europapolitikerin.

Das Eisenbahnerkrankenhaus in Charkiw muss ein ziemlich schizophrener Ort sein. Die Berichterstattung über den Zustand der Klinik, in der Julia Timoschenko seit mehr als einem Jahr wegen eines Bandscheibenvorfalls behandelt wird, fällt jedenfalls elementar unterschiedlich aus - immer abhängig davon, wer den prominentesten Häftling der Ukraine gerade besucht. "Julia sieht weder Sonnenlicht noch bekommt sie frische Luft", echauffierte sich zuletzt eine Delegation der "Vaterlandspartei", deren Vorsitzende Timoschenko immer noch ist. Was ihre Unterstützer pünktlich zum zweiten Jahrestag von Timoschenkos Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs über den Äther sendeten, entspricht exakt dem Bild der unschuldigen Märtyrerin, das sie über die Jahre hinweg aufgebaut hat – und das vor allem in den vergangenen Monaten immer mehr Risse bekam. Aber dazu später mehr.

Absolut nicht ins Bild passt unter diesen Vorzeichen die Stippvisite einer Abgeordneten des Europaparlaments. "Ich war angenehm überrascht, dass ich sowohl das Krankenhaus als auch Timoschenko selbst in so guter Verfassung vorfand", berichtete Zita Gurmai, die für die ungarischen Sozialdemokraten in Brüssel sitzt. Spannend ist Gurmais Aussage vor allem deshalb, weil die Politikerin – anders als Timoschenkos Parteikollegen – keinen Grund hat, ihren Bericht zu färben. Ganz im Gegenteil, schließlich sind neben dem Vorwurf der selektiven Justiz die Haftbedingungen einer der Hauptgründe der EU, für Timoschenkos Freilassung zu plädieren.

Nur Timoschenko steht dem Assoziierungsabkommen im Wege

Vor zwei Jahren war die ehemalige Regierungschefin wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt worden - und obwohl der Prozess durchaus als politisch motiviert gelten darf, legen die laufenden Ermittlungen nahe, dass die Vorwürfe gegen Timoschenko nicht unbegründet sind: Es geht um gewaltige Summen, welche die 52-Jährige in ihrer Zeit als Chefin des staatseigenen Gaskonzerns EESU in den 90er Jahren in ihre eigene Tasche abgezweigt haben soll - mehr als 405 Millionen US-Dollar soll Timoschenko der Ukraine schulden.

Ein Foto aus dem Eisenbahnerkrankenhaus im Mai 2012, wo Timoschenko auch jetzt noch liegt.

Ein Foto aus dem Eisenbahnerkrankenhaus im Mai 2012, wo Timoschenko auch jetzt noch liegt.

(Foto: picture alliance / dpa)

Das alles dürfte eigentlich hierzulande kein Problem sein, wenn denn nicht wie so oft höhere Interessen im Spiel wären: Schon seit mehreren Jahren will die EU ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine auf den Weg bringen, um unter anderem eine Freihandelszone zu etablieren. "Besonders die Modernisierung unse rer Wirtschaft und die Erschließung eines Marktes mit einer Kapazität von 46 Millionen Menschen, die immer noch unzureichend versorgt sind, macht die Ukraine doch zu einem wahnsinnig attraktiven Standort für Investoren", brachte der ukrainische Regierungschef Mykola Asarow jüngst im Gespräch mit der französischen Zeitung "Le Nouvel Économiste" die europäischen Interessen auf den Punkt.

Die EU hat nun also ein Problem: Das Abkommen wäre ein ideales Mittel, um die krisengeschüttelte Wirtschaft wieder anzukurbeln. Eine der Bedingungen für einen Abschluss ist allerdings die Freilassung Timoschenkos. Dahinter steht ein blinder Vertrauensbeweis an die Frau mit dem Flechtzopf, ausgestellt vor zwei Jahren von europäischen Politikern, die vor den Wählern daheim ihr demokratisches Profil schärfen wollten.

Schon damals rumorten die Gerüchte über Timoschenkos wilde Vergangenheit, die möglicherweise weit über Amtsmissbrauch hinausgeht: Seit dem vergangenen Jahr strengt die Staatsanwaltschaft nämlich auch noch einen Mordprozess gegen die charismatische Politikerin an. Timoschenko soll bei der Ermordung von Jewgeni Schtscherban ihre Finger im Spiel gehabt haben. 1996 war der Geschäftsmann aus der Industriehochburg Donezk am örtlichen Flughafen erschossen worden, mit ihm seine Frau und zwei Bordmechaniker seines Privatjets. Etwa drei Millionen Dollar soll das elfköpfige Killerkommando als Blutgeld erhalten haben. Angeblich führt die Spur des Geldes bis zur Somolli Enterprises Ltd. - einer zyprischen Briefkastenfirma, damals im Besitz der 52-Jährigen.

Timoschenkos Bandscheibenvorfall als Exit-Strategie

Was also tun mit der plötzlich so lästigen Politikerin? Obwohl Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine eher Auslegungssache ist, würde eine Freilassung die Willkür des Systems nur noch stärker ins Rampenlicht rücken - das kann sich Präsident Wiktor Janukowitsch nicht leisten. Zum Glück für Ukraine und EU scheint es eine Lösung zu geben, bei der beide Seiten ihr Gesicht wahren können: Timoschenkos Bandscheibenvorfall. Seit mehr als einem Jahr laboriert die in ihrem Heimatland als "Gasprinzessin" bekannt gewordene Politikerin schon an der Krankheit, die bei ihr offensichtlich deutlich drastischer verläuft als normalerweise üblich. Sogar aus der Berliner Charité flog im vergangenen Jahr regelmäßig ein Ärzteteam ein, um Timoschenko zu behandeln.

Nach einer längeren Pause waren die Spezialisten um Charité-Chef Karl Max Einhäupl Mitte Juni wieder einmal in Charkiw, um sich den Heilungsfortschritt anzuschauen - und berichteten Schockierendes: Timoschenkos ohnehin schon kritischer Zustand könne in der Invalidität enden, falls sie nicht möglichst rasch operiert werde, ließ Einhäupl über eine Pressesprecherin verbreiten. Kurz darauf machte Bundesaußenminister Guido Westerwelle deutlich, wo eine Behandlung seiner Meinung nach am sinnvollsten wäre: "Das Angebot an Frau Timoschenko, sich in Deutschland medizinisch behandeln zu lassen, steht."

Dass nun ausgerechnet eine Abgeordnete des Europaparlaments diese Hintertür für eine stille Lösung des Timoschenko-Problems zumindest vorübergehend zuschlägt, sorgt in Brüssel für Befremden: "Ich bin über Gurmais Verhalten und das ihrer Delegation entsetzt", sagte der Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Europaparlament, Elmar Brok, und fügte an: "Gurmai hat sich Timoschenkos Vertrauen erschlichen und auf amateurhafte Art und Weise über ihren Gesundheitszustand geurteilt."

Wie Gurmai das gemacht haben soll und warum Timoschenko anscheinend gesünder wirkt, wenn sie sich unter Freunden wähnt, erklärte der CDU-Politiker übrigens nicht. Genauso wenig wie den Umstand, dass Brok, der seit der Attacke durch Femen-Aktivistinnen auf seine Person im März nicht mehr in der Ukraine war, anscheinend besser über Timoschenkos Genesungsprozess informiert ist als Gurmai, die die Politikerin vor Ort traf.

Am Ende ist es aber nicht das kleinteilige Gerangel zweier Europaparlamentsabgeordneter, das über Timoschenkos Gesundheitszustand entscheidet, sondern die "Gasprinzessin" selbst. Und wenn sie ihre Taktik nicht komplett verändert hat, wird sie auch diesmal der nächsten Runde im Mordprozess fernbleiben. Zumindest das Eisenbahnerkrankenhaus in Charkiw dürfte sich also über eine Verlegung von Timoschenko nach Berlin freuen – freie Betten sind dort nämlich Mangelware.

Update: Julia Timoschenko ist dem Prozess tatsächlich ferngeblieben, die Verhandlung wurde auf den 6. September vertagt.

Quelle: ntv.de

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