Politik

Taliban-Erfolg in Afghanistan Die Bundeswehr ist weg, Entwicklungshelfer bleiben

Ein Projekt der Welthungerhilfe in Afghanistan: Im Dorf Khwaja Ghaib lernen Menschen den Gemüseanbau im Gewächshaus.

Ein Projekt der Welthungerhilfe in Afghanistan: Im Dorf Khwaja Ghaib lernen Menschen den Gemüseanbau im Gewächshaus.

(Foto: Hamdullah Hamdard / Welthungerhilfe)

Die Taliban nehmen Kundus ein, den ehemaligen Standort der Bundeswehr. Die Islamisten rücken vor, während die NATO abzieht. Zurück bleiben die Afghanen - und internationale NGOs. Wie gefährlich ist der Vormarsch der Taliban für ihre Arbeit und ihre Leute?

Die Bundeswehr hat erst vor wenigen Wochen Kundus verlassen, nun nehmen die Taliban bereits von der Provinzhauptstadt Besitz. Der Rückzug anderer NATO-Soldaten ist in vollem Gange. Am 31. August soll nach fast 20 Jahren auch die US-Militärmission offiziell enden. Die Truppen hinterlassen ein Land, in dem die Gewalt wieder zunimmt. Mit Kundus haben die Taliban in kurzer Zeit die dritte Provinzhauptstadt erobert, sie verüben Anschläge auf Regierungsvertreter. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben dem nicht immer etwas entgegenzusetzen. Und viele Zivilisten müssen fliehen.

Die zunehmenden Kämpfe und die Flüchtlingsbewegungen verändern auch die Arbeit der internationalen Helfer in Afghanistan, von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie der Deutschen Welthungerhilfe und anderen Einrichtungen wie der Konrad-Adenauer-Stiftung. Einerseits, weil die Sicherheitslage der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter prekärer wird. Andererseits, weil bestehende Projekte gefährdet sind. Das Land ist ohnehin schon eines der gefährlichsten für Hilfsorganisationen. 2020 wurden insgesamt 180 internationale Helfer getötet, verletzt oder entführt. Bis April 2021 waren es bereits 69.

Wie die meisten NGOs will auch die Welthungerhilfe, die seit 1980 in Afghanistan präsent ist, im Land bleiben. "Wir haben eine humanitäre Aufgabe", sagt Landesdirektor Thomas ten Boer, der seit dreieinhalb Jahren in Kabul arbeitet. Und Arbeit gibt es genug: Ten Boer erwähnt die derzeit 390.000 Binnenflüchtlinge und die 700.000 Menschen, die vor allem aus dem Iran ins Land zurückkehren. "Es gibt Dürren im Norden und im Südwesten des Landes. Und dann gibt es noch die Corona-Pandemie", sagt der Niederländer im Gespräch mit ntv.de. "Die afghanische Bevölkerung braucht sehr viel Hilfe."

Die Gewalt nimmt zu: In dieser Woche bekannten sich die Taliban zu einem Anschlag auf die Residenz des Verteidigungsministers in Kabul.

Die Gewalt nimmt zu: In dieser Woche bekannten sich die Taliban zu einem Anschlag auf die Residenz des Verteidigungsministers in Kabul.

(Foto: imago images/Xinhua)

Derzeit arbeiten fünf internationale Mitarbeiter für die Welthungerhilfe in Afghanistan. Hinzu kommen 170 bis 200 Einheimische, die vor allem in den Gemeinden, in denen Projekte umgesetzt werden, arbeiten. Sie leisten humanitäre Hilfe, fördern Ernährungssicherung, Landwirtschaft und berufliche Fortbildungen.

Hilfsarbeit auch in Taliban-Gebieten

Als humanitäre Organisation bleibt die Welthungerhilfe in Konflikten neutral. Eine Zusammenarbeit mit den NATO-Truppen gab und gibt es deshalb nicht. Dafür ist auch Hilfe in Gebieten möglich, die von den Taliban kontrolliert werden. Zumindest wenn es die Sicherheitslage zulässt, über die sich die Welthungerhilfe permanent mit anderen NGOs austauscht. "Wenn es Kämpfe oder Luftangriffe in einer Region gibt und sich die Frontlinie immer wieder verschiebt, wird die Arbeit gestoppt." In einer Region an der Grenze zu Tadschikistan ruht deshalb derzeit die Projektarbeit, zumindest bis sich die Lage beruhigt. "Wenn die Taliban ein Gebiet fest kontrollieren und es dort keine Kämpfe mehr gibt, gehen wir zurück in die Gemeinden und nehmen unsere Arbeit wieder auf", sagt ten Boer.

Thomas ten Boer ist Landesdirektor der Welthungerhilfe in Afghanistan.

Thomas ten Boer ist Landesdirektor der Welthungerhilfe in Afghanistan.

(Foto: Stefanie Glinski)

Direkte Gespräche mit den Taliban gibt es aber nicht, Ansprechpartner sind die Vertreter der Gemeinden. "Wenn wir uns mit einer Gemeinde über ein Projekt geeinigt haben, verhandelt diese mit den Taliban darüber. Bei kontroversen Punkten versuchen die Gemeinden, Kompromisse zu finden", so ten Boer. Er betont, wie wichtig es ist, sich dann an die Abmachungen zu halten: "Wir als internationale Organisation müssen sehr offen und transparent sein, was unsere Arbeit angeht. Es darf keine Geheimnisse oder Überraschungen geben."

Diese Projektarbeit, die klassische Entwicklungshilfe, ist allerdings aufgrund der zunehmenden Gewalt gefährdet. Ten Boer erwartet eine Verschiebung: "Ich denke, dass wir künftig viel mehr Nothilfe werden leisten müssen, etwa durch Lebensmittellieferungen." Es werde viel mehr Binnenflüchtlinge geben. "Das heißt, der Hauptteil unserer Arbeit wird aus humanitärer Hilfe und Nothilfe bestehen."

Dr. Ellinor Zeino arbeitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul.

Dr. Ellinor Zeino arbeitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul.

(Foto: Ellinor Zeino)

So wie die Welthungerhilfe will auch die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Afghanistan bleiben. Für sie gibt es aber eine besondere Schwierigkeit: Es ist eine politische Stiftung. "Humanitäre Organisationen wurden in der Vergangenheit auch unter dem Taliban-Emirat in Ruhe gelassen, sie hatten eine gewisse Schutzgarantie", erklärt Ellinor Zeino, die seit drei Jahren in Kabul lebt und von dort das Regionalprogramm Südwestasien der KAS leitet. Auf ihr Büro treffe das nicht zu, es habe auch keinen diplomatischen Status. "Letztlich ist jedoch jede ausländische Einrichtung gefährdet. Hier verlässt sich niemand auf Aussagen von Taliban-Führern oder auf irgendeine Sicherheitsgarantie", sagt Zeino.

"Ein unglaublich schwieriger Balanceakt"

Die Politologin spricht von Unklarheit und Ungewissheit bei vielen Ausländern in Afghanistan. "Alle sagen, dass sie im Land bleiben wollen, solange es geht", sagt sie unter Verweis auf Gespräche mit Botschaftsangehörigen oder Mitarbeitern der UN-Mission und anderer Einrichtungen. "Aber wir müssen gleichzeitig auch Optionen schaffen, damit wir schnell raus können und auch unsere Ortskräfte in Sicherheit bringen." Das sei ein unglaublich schwieriger Balanceakt, den jede Organisation anders beantworten müsse, abhängig etwa von der Zahl der Mitarbeiter.

Zeino arbeitet in einem gesicherten Privathaus, weshalb sie vor allem in der afghanischen Welt lebt, nicht nur innerhalb der internationalen Community. Die Lage in der Hauptstadt selbst sei derzeit ruhig, aber angespannt, erzählt sie und fügt an: "Wir wissen nicht, was auf uns zukommt." In Kabul könne sie sich so wie sonst bewegen, in Provinzhauptstädte zu kommen sei mittlerweile aber schwierig. Dort mussten auch schon Projekte abgesagt werden. In Kabul dagegen gibt es noch Veranstaltungen, Dialoge und Workshops - öffentlich angekündigt werden sie aber schon seit Jahren nicht mehr. Viel Zeit geht angesichts der Lage zudem für das Krisenmanagement drauf. Weitreichende Pläne können ohnehin nicht gemacht werden, weil völlig unklar ist, wie sich die Lage entwickelt.

Dass die NATO-Truppen abgezogen sind, hat für Zeino und das KAS-Büro aktuell noch keine direkten Auswirkungen. Doch sie schränkt ein, dass dadurch im Notfall die Option fehle, von der Bundeswehr ausgeflogen zu werden. "Das heißt, wir müssen uns selbst darum kümmern, wie wir aus dem Land kommen, wenn die Lage kippt." Einfache Lösungen gebe es dafür nicht: "Wenn es hier brennt, wissen wir, dass die Kapazitäten unserer Sicherheitsanbieter und das, was die deutsche Botschaft leisten kann, sehr, sehr begrenzt sind."

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Die größten Kopfschmerzen bereitet ihr allerdings die Sicherheit der einheimischen Mitarbeiter - Zeino ist die einzige Ausländerin im Büro. Sie selbst könne im Ernstfall zwar raus, die Mitarbeiter aber vielleicht nicht mehr. Denn für ein Asylrecht brauche es eine konkrete Gefährdung, und wenn diese eintritt, gebe es eventuell keinen Handlungsspielraum mehr.

Dennoch bleibt sie optimistisch: "Ich möchte hier kein Drama zeichnen oder Panik schüren. Die Lage ist ernst, aber gleichzeitig glaube ich an die afghanische Gesellschaft, in der ich unglaubliches Potenzial sehe", sagt sie. In Kabul gebe es interessante, intelligente, gebildete Menschen. "Sie brauchen jetzt die Chance, die Gesellschaft für sich gestalten zu können, ohne Einmischung von außen." Das werde nicht einfach und könne lange dauern. "Aber ich glaube noch daran."

Quelle: ntv.de

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