Biosprit ein Grund Die Nahrung wird knapp
21.04.2008, 16:07 UhrDie Welt droht wegen der steigenden Lebensmittelpreise den Kampf gegen die Armut zu verlieren. Die hohen Kosten für Grundnahrungsmittel wie Reis und Mehl machten die Erfolge jahrelanger Hilfen zunichte, warnte Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Als Sofortmaßnahme verlangte die SPD-Politikerin unter anderem einen vollständigen Stopp von Biosprit, bis sich der Lebensmittelmarkt wieder beruhigt habe.
Das Ziel, die weltweite Armut bis 2015 zu halbieren, sei immer schwerer zu erreichen, sagte auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zum Auftakt einer UN-Konferenz über Handel und Entwicklung in Ghanas Hauptstadt Accra. Er schloss nicht mehr aus, dass die in den vergangenen sieben Jahren erzielten Fortschritte gänzlich verloren gehen. Wieczorek-Zeul warnte zudem vor Hungeraufständen und Folgen für die weltweite Stabilität und Sicherheit. Nun müsse schnell gehandelt werden, um die katastrophalen Folgen in den Entwicklungsländern zu dämpfen, sagte sie.
Recht auf Nahrung gegen Recht auf Mobilität
In einem "Pakt für Ernährungssicherung" legte Wieczorek-Zeul neun Vorschläge vor, wie die Krise eingedämmt werden könne. Oberstes Gebot sei zunächst, den weltweiten Lebensmittelhandel zu beruhigen. Unsicherheit schüren demnach nicht nur Ausfuhrverbote für Reis oder Weizen, die einige Entwicklungsländer aus Angst um die Versorgung der eigenen Bevölkerung erlassen haben.
Im Gegensatz zu Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geißelte die Ministerin erneut in deutlichen Worten die Verwendung von Getreide und Ölfrüchten zur Herstellung von klimafreundlichen Treibstoffen. "Das Recht auf Nahrung wiegt schwerer als das Recht auf Mobilität", sagte sie.
Lebensmittel werden Chefsache
Die Kanzlerin beauftragte eine Arbeitsgruppe, die Antwort auf die Krise zu finden. Sie solle dem Kabinett noch vor der Sommerpause Schritte auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene vorschlagen, sagte Regierungssprecher Thomas Steg.
Der Generaldirektor des in Washington ansässigen "International Food Policy Research Institute", Joachim von Braun, forderte bei einem Treffen mit Wieczorek-Zeul schnelle Hilfe, um die katastrophalen Folgen gerade in Entwicklungsländern zu dämpfen. "Die Lage der Welternährung ist kritisch", sagte Braun in Berlin. Die Gründe für die Preisexplosion seien vielfältig. Dazu gehörten die steigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln als Folge von mehr Wachstum und Wohlstand, eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten, ein Rückgang von Agrarflächen und der Klimawandel ebenso wie Spekulationen und die zunehmende Produktion von Agrartreibstoffen wegen des hohen Ölpreises.
"Die Welt konsumiert mehr als sie produziert"
Allein von März 2007 bis März 2008 sind Nahrungsmittel nach Berechnungen der Welternährungsorganisation FAO 57 Prozent teurer geworden. Der Reispreis stieg in den vergangenen beiden Monaten um 75 Prozent, der Weizenpreis im vergangenen Jahr um 120 Prozent. In Kamerun, Burkina Faso, Ägypten und Haiti kam es zu Hungerunruhen, weil sich die Armen die Ausgaben für Nahrungsmittel nicht mehr leisten können. Allein der zunehmende Einsatz von Agrarprodukten für Biosprit trage 25 Prozentpunkte zur Preissteigerung bei, sagte von Braun. Merkel hatte am Donnerstag der schlechten Agrarpolitik in den Entwicklungsländern die Hauptschuld an der Preisexplosion gegeben.
Von Braun warnte, wenn die von vielen Ländern geplante Erhöhung der Beimischung von Biosprit zu Normalbenzin umgesetzt werde, treibe das die Preise um 70 Prozent nach oben. Zugleich habe die Produktivität in der Landwirtschaft zuletzt nur noch minimal zugenommen. Es werde nicht genug in den Agrarbereich investiert. "Die Welt konsumiert mehr als sie produziert", klagte von Braun. Das verursache an den Märkten Spannungen und Nervosität.
Auch der UN-Generalsekretär hatte darauf hingewiesen, dass die Welt in den vergangenen drei Jahren mehr Nahrungsmittel verbraucht als erzeugt hat. Ban machte dafür die steigenden Ölpreise, die Abwertung des Dollars und Naturkatastrophen verantwortlich.
Welthungerhilfe gegen Seehofer
Die Welthungerhilfe forderte eine Agrarwende in den Entwicklungsländern und sprach sich zugleich gegen einen Ausbau der Agrarproduktion in Deutschland und der EU aus. Statt mit staatlichen Subventionen mehr Nahrungsmittel in Deutschland oder der EU zu produzieren, müsse das landwirtschaftliche Potenzial des Südens effizienter genutzt werden, erklärte die Welthungerhilfe-Vorsitzende Ingeborg Schäuble. Die Lösung liege nicht darin, "dass wir im Norden Überschüsse produzieren und diese dann erneut zu billigen subventionierten Preisen in die Entwicklungsländer schicken". Die Vergangenheit habe gezeigt, dass so die Märkte dort und die Existenz vieler Kleinbauern zerstört würden.
Bevor in Europa stillgelegte Flächen für die Hungernden aktiviert würden, sollten noch nicht bewirtschaftete Gebiete in den Entwicklungsländern unter den Pflug genommen werden. Außerdem sei es nötig, die Anbaumethoden sowie die Lagerung von Getreide zu verbessern. Zusätzlich müssten Transportwege geschaffen werden, damit die Bauern die lokalen Märkte erreichen könnten.
Stillgelegte Flächen in Europa will Bundesagrarminister Horst Seehofer (CSU) wieder aktivieren. Am Wochenende hatte Seehofer gefordert, die 3,8 Millionen Hektar Felder und Weiden möglichst rasch wieder nutzbar zu machen, die in der EU im Kampf gegen Überschüsse etwa bei Butter und Milch stillgelegt worden waren. "Wir brauchen eine Renaissance der Landwirtschaft, einen Ausbau der Agrarproduktion in Deutschland, der gesamten EU und vor allem in den Entwicklungsländern", sagte Seehofer.
Unruhen haben Indien erreicht
Nach Ausschreitungen in Neu-Delhi und anderen Städten kam es in Indien auch in der Millionenstadt Kalkutta zu Gewalt am Rande von Protesten gegen die galoppierenden Preise. Demonstranten warfen Steine auf Nahverkehrsbusse und gingen mit Eisenstangen auf Fahrzeuge los, deren Fahrer sich nicht an einem Streik gegen die hohen Kosten für die Ärmsten beteiligten. Singapur kündigte an, seine Lebensmittelvorräte aufzustocken und mehr Reis zu importieren. Die Entscheidung mehrerer asiatischer Länder, die Lager aufzufüllen, hat die Preisspirale angeheizt.
EU-Kommission will Bauernbeihilfen weniger stark senken
Die EU-Kommission ließ derweil ihren Vorschlag der Kürzung von Beihilfen fallen, weil dies nicht den Erfolg gebracht hätte, "zu einer größeren Verteilungsgerechtigkeit zu kommen", sagte der Vizekabinettschef von EU-Agrarkommissarin Mariann Fischer Boel, Klaus-Dieter Borchardt, am Montag bei einem Kongress der CDU/CSU-Fraktion in Berlin. Davon wären vor allem ostdeutsche Großbetriebe betroffen gewesen.
Die Kommission will aber einen Teil der Beihilfen in Mittel zur ländlichen Entwicklung umleiten. Seehofer warnte vor negativen Folgen für die Landwirte. Die Beihilfen seien keine Almosen, sondern die Gegenleistung für bestimmte Pflichten wie Umweltmaßnahmen. Es sei positiv, die Kürzung fallen zu lassen. Nun müsse aber geprüft werden, ob die Umleitung von Beihilfen zugunsten der ländlichen Entwicklung "nicht die gleiche Wirkung hat".
Diese Umlenkung soll umso höher sein, je höher die Beihilfen sind. Für Großbetriebe mit Prämien von mehr als 300.000 Euro sollen die Mittel nur noch um bis zu 17 Prozent gekürzt werden. In EU-Verhandlungskreisen wird davon ausgegangen, dass noch Spielraum nach unten besteht. Beim bisherigen Vorschlag war über die Beihilfenkürzung ein Minus von bis zu 45 Prozent vorgesehen.
Die EU-Kommission will im Mai Pläne dazu präsentieren, wie Schwächen der Agrarreform 2003 behoben werden können. Es gehe weder um eine Reform noch um eine Notoperation, sagte Borchardt. "Es geht uns um Anpassungen." Seehofer befürchtet grundlegende Veränderungen der EU-Agrarpolitik und pocht auf Verlässlichkeit bis zum Ende der Finanzperiode 2013.
Quelle: ntv.de