Jahrestag des Giftanschlags Die Unterhose wird Nawalny zum Verhängnis
20.08.2021, 06:20 Uhr
Gezeichnet von seiner Vergiftung: Alexej Nawalny am 22. September 2020.
(Foto: dpa)
Die Bilder eines vor Schmerzen schreienden Nawalnys gehen im August 2020 um die Welt. Seine Vergiftung löst ein politisches Beben aus und bleibt dennoch, auch ein Jahr später, nicht gänzlich aufgeklärt. Inzwischen ist der russische Oppositionelle inhaftiert - doch sein Kampf geht weiter.
Seit acht Monaten ist der vor einem Jahr mit dem Nervengift Nowitschok beinahe getötete Alexej Nawalny in Haft. Zwar ist der 45-Jährige bisher damit gescheitert, Ermittlungen wegen des Mordanschlags auf ihn vom 20. August 2020 in der sibirischen Stadt Tomsk zu erwirken. Doch kann er nun einmal mehr auf prominente Unterstützung aus Deutschland hoffen.
Ausgerechnet am ersten Jahrestag der Tat trifft Kanzlerin Angela Merkel Kremlchef Wladimir Putin in Moskau. Damit dürfte der Fall des Oppositionellen erneut internationale Beachtung finden. Nawalny ist überzeugt, dass ein Killerkommando des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB unter Befehl Putins die Tat plante. Putin weist das zurück. Aber Merkel dürfte nun wohl noch einmal Aufklärung des Verbrechens verlangen.
Vor dem Jahrestag des Attentats heißt es in Nawalnys Telegram-Kanal, sein Ziel sei ein "Russland ohne Putin". Der Kampf müsse weitergehen. "Putin - das ist Korruption, das sind niedrige Löhne und Renten. Putin - das ist eine Wirtschaft im Fall und steigende Preise." Dass er heute im Straflager sitzt, sieht der Politiker als einen klaren Beleg dafür, dass es Putins System vor allem darum geht, den führenden Oppositionellen, der Massen mobilisieren kann, politisch kaltzustellen.
Darum der Anschlag mit dem verbotenen chemischen Kampfstoff Nowitschok vor einem Jahr; darum die Verurteilung zu Straflager in einem umstrittenen Prozess, weil Nawalny gegen Auflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen haben soll. Als der Politiker, der sich damals über Monate von dem Attentat in Deutschland erholte, am 17. Januar nach Moskau zurückkehrt, ist ihm klar, dass er weiter politisch verfolgt wird. Der Familienvater macht aber immer wieder deutlich, dass eine Arbeit als Oppositioneller im Exil für ihn nicht infrage kommt.
"Verurteilung ist sogar noch radikaler als Vergiftung"
Seither geht der Machtapparat in Moskau nicht nur verstärkt gegen ihn selbst, sondern gegen seine politischen Strukturen im ganzen Land vor. Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung ist inzwischen ebenso verboten wie seine von der Regierung als extremistisch eingestuften politischen Stäbe in den Regionen. Damit wird den Oppositionellen auch die Zulassung zu Wahlen verwehrt. "An einem einzigen Tag haben sie 50 Internetseiten blockiert", teilt Nawalny bei Instagram mit. Auch die von ihm unterstützten unabhängigen Gewerkschaften der Ärzte und Lehrer, die etwa höhere Löhne fordern, seien nun als Extremisten gebrandmarkt.
Das Vorgehen der russischen Justiz gegen Nawalny und seine Mitarbeiter dürfte mit der Parlamentswahl am 19. September in Verbindung stehen. "Die Säuberung des politischen Feldes hat dem Kreml geholfen, ein hartes Regime aufzubauen, das keine Alternative zu Putin zulässt", meint etwa die Politologin Tatjana Stanowaja. Nawalnys Inhaftierung im Straflager sei eine "politische Hinrichtung". "Die Verurteilung ist sogar noch radikaler als die Vergiftung. Indem er Nawalny einsitzen lässt, riskiert der Machtapparat viel mehr, als sich seiner einfach heimlich zu entledigen", sagt Stanowaja.
Nawalny bleibt ein Stachel im Fleisch. Und auch die EU und die USA üben Druck aus, damit Russland Ermittlungen zu dem Anschlag gegen Nawalny aufnimmt. Gegen ranghohe Funktionäre sind wegen des Attentats längst Sanktionen in Kraft. An den Kremlmauern prallt das aber ab. Erst vor wenigen Tagen behauptet der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergej Naryschkin, im Staatsfernsehen wieder, es handele sich um einen Komplott des Westens und seiner Geheimdienste gegen Russland. Im Krankenhaus in Russland sei bei Nawalny kein Gift gefunden worden, womöglich sei ihm das erst in Deutschland verabreicht worden.
Der damals ins Koma gefallene Nawalny wurde am 22. August 2020 nach Deutschland geflogen und dort wochenlang in der Berliner Charité behandelt. Auch Merkel besuchte ihn dort. Nawalny und seine Mitarbeiter beklagen, dass er bis heute seine Kleidung aus der russischen Klinik nicht zurückerhalten habe. Der Politiker geht davon aus, dass das Gift in seiner Unterhose angebracht wurde und so über die Haut eindringen konnte. Mehrere westliche Labore, darunter eines der Bundeswehr, haben in Nawalnys Körper zweifelsfrei den Kampfstoff Nowitschok nachgewiesen.
Opposition will Machtmonopol bei Parlamentswahl brechen
Im Juni veröffentlichten Nawalnys Anhänger einen langen Text, in dem sie der Klinik in der sibirischen Stadt Omsk vorwerfen, medizinische Dokumente gefälscht zu haben, um Hinweise auf die Vergiftung zu vertuschen. Auch ein Bluttest sei aus den Unterlagen verschwunden. Es müsse nun weiter alles dafür getan werden, dass Putin es bereue, den Oppositionellen eingesperrt zu haben, sagt Nawalnys Vertrauter Leonid Wolkow. "Putin ist böse und unmoralisch. Es muss teuer für ihn werden", sagt Wolkow, der im Ausland Nawalnys Arbeit weiterführt.
Nawalnys Team hat nicht zuletzt Sanktionen gegen jene Oligarchen angeregt, die Putin unterstützen. Ziel sei es, auch durch internationalen Druck Nawalnys Freilassung zu erreichen. Aktuell aber richtet sich die Kraft der Bewegung um Nawalny auf die Parlamentswahl, bei der sie in gut einem Monat das Machtmonopol der seit mehr als 20 Jahren regierenden Kremlpartei Geeintes Russland brechen will. "Je näher die Wahlen kommen, desto mehr wird das Ausmaß an Irrsinn wachsen und werden politische Aggression und politische Konflikte zunehmen", sagt Wolkow.
Täglich ruft die Opposition dazu auf, sich für das "smarte Abstimmen" bei der Wahl zu registrieren. Da gibt Nawalnys Team Hinweise, welchem aussichtsreichen Kandidaten Wähler die Stimme geben sollten, um den Bewerber der Kremlpartei so zu verhindern. Damit hat Nawalny bei anderen Wahlen in der Vergangenheit zum Ärger der laut Umfragen unbeliebten Partei Geeintes Russland schon einige Erfolge erzielt.
Quelle: ntv.de, Ulf Mauder, dpa