Von Kasimpasa bis zum Gezi-Park Ein Besuch in Erdogans Reich
10.08.2014, 08:24 Uhr
Kaum jemand zweifelt daran, dass Erdogan die Wahl gewinnt.
Aller Voraussicht nach wird Recep Tayyip Erdogan heute zum Präsidenten der Türkei gewählt. In vielen Teilen der türkischen Gesellschaft hat er Unterstützer. Doch nicht jeder sieht die Zukunft des Landes positiv - eine Reportage.
Der Taxifahrer stöhnt auf, als er hört, dass es nach Kasimpasa geht. Es ist ein ärmeres Stadtviertel Istanbuls. Dort ist Recep Tayyip Erdogan aufgewachsen. "Erdogan ist ein Diktator", meint der Taxifahrer, "er ruiniert die Türkei. Er sammelt die Stimmen von den armen, ungebildeten Leuten ein. In den Armenvierteln - da holt die AK-Partei all ihre Stimmen".
Seinen Namen will er aber nicht nennen. Er habe Angst seinen Job zu verlieren, sagt er. Erdogans Leute werden immer mächtiger, die würden doch alle unter Druck setzen. Solche Sätze sind in der Türkei häufig zu hören. Doch nicht alle blicken so düster in die Zukunft.
In Kasimpasa angekommen, ist die Stimmung eine ganz andere. Nicht nur, dass es hier noch mehr Plakate von Erdogan gibt als im Zentrum Istanbuls, es ist auch etwas ruhiger. In einem kleinen Café neben der Moschee sitzen die Männer im Schatten der Bäume beim Tee. Hier lieben sie ihren Tayyip, wie sie den Ministerpräsidenten beim Vornamen nennen. Viele ältere Männer hier sind mit Erdogan aufgewachsen, mit ihm zur Schule gegangen.
Erdogan ist seinem Friseur treu
So wie Ali Cakir. Er war vier Klassen unter Erdogan und hat damals schon zu ihm aufgeblickt. "Er war immer ein großer Kommunikator - zu allen hatte er Kontakt, er war sehr beliebt. Und er hat sich schon sehr früh für die Politik interessiert und war dort aktiv." Recep Yilmaz hat sogar mit ihm Fußball gespielt - damals vor 45 Jahren. Heute kann man sich das kaum vorstellen. Mit langem Bart und gehäkelter Mütze auf dem Kopf, der 69-Jährige ist nicht mehr gut zu Fuß. "Erdogan hatte schon als Junge so einen Charakter", sagt er. "Der konnte sich durchsetzen. Wir kommen beide vom Schwarzen Meer. Dort sind die Menschen so".
Zu seinem Friseur aus Jugendzeiten geht der Regierungschef noch heute, wenn er in Istanbul ist. Man muss nicht lange nach ihm suchen. Yasar Ayhan kennt hier jeder. Schon bei seinem Vater war Erdogan Kunde. "Das ist immer ein großes Ereignis", sagt Ayhan über die Besuche. Der Verkehr wird dann umgeleitet. Hier ist immer ein riesiger Menschenauflauf - 700 oder 800 Leute stehen dann vor der Tür.
Ehrenwerte Leute
Stolz zeigt er Fotos von sich und Erdogan. Über Politik würden sie aber nicht sprechen, es ginge nur um die Sorgen und Nöte der Menschen hier in Kasimpasa. Auch als Ministerpräsident sei er eben noch einer von ihnen, meint der Friseur. Und selbst im kleinen Fernseher im Salon ist Erdogan präsent. Es wird eine dieser vielen gigantischen Wahlkampfveranstaltungen übertragen.
Hier in Kasimpasa waren und sind sie stolz auf ihn. An die Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan glaubt hier keiner. "Das war doch alles aus dem Ausland lanciert, aus Amerika und dem Iran", sagen die Männer. Und einer meint, Tayyip sei eben sehr erfolgreich, das schaffe Feinde. Aber er kenne seine Familie. Das seien alles ehrenwerte Leute. Die würden nichts Unrechtes tun.
Nur ein paar Kilometer weiter im modernen Taksim im Herzen Istanbuls sehen sie das anders. Hier hatten sie wochenlang für den Erhalt des Gezi-Parks demonstriert und am Ende auch gegen die autokratische Regierung von Premier Erdogan. Er wolle unsterblich werden, in die Geschichtsbücher eingehen, mindestens bis 2023 regieren, dem 100. Geburtstag der Republik Türkei. Überhaupt wolle er Atatürk ablösen, sagt eine junge Studentin. Ihren Namen will sie nicht preisgeben.
Angela-Merkel-Straße in Berlin? Undenkbar
Tatsächlich: Immer häufiger werden Straßen, Plätze und Stadien nach Recep Tayyip Erdogan benannt - im ganzen Land. Zu Lebzeiten und wo er noch an der Macht ist. Man stelle sich eine Angela-Merkel-Straße in Köln, Hamburg oder Berlin vor - undenkbar. Bisher kannte man das auch in der Türkei vor allem von Staatsgründer Atatürk. Der hatte 1923 die Republik Türkei gegründet und für eine strikte Trennung von Staat und Religion gesorgt.
Genau das weiche Erdogan immer mehr auf, sagen viele. Der Alkoholverkauf ist eingeschränkt. Werbung dafür verboten. In Studentenheimen sollen Frauen und Männer künftig getrennt wohnen. Und wenn Erdogan eine Moderatorin im Fernsehen zu freizügig erscheint, wird sie gefeuert.
Dass er jetzt Präsident wird, macht vielen jungen Leuten Angst. "Der will aus der Türkei ein Sultanat machen", sagt die Studentin Bilge. "Das ist ein Albtraum!" meint Hanen, auch sie ist Studentin. Mit ihrer Freundin Elif sitzt sie bei einem Bier in einer Kneipe. "So etwas - das will Erdogan alles verbieten. Und als Frauen sollen wir schon mal gar keinen Alkohol trinken". Die beiden jungen Frauen werden wütend: "Für ihn sind wir doch nur Subjekte, Subjekte, die Kinder gebären und die Bedürfnisse der Männer erfüllen sollen.
Die Aufbruchsstimmung, die hier bei den Gezi-Protesten im Frühsommer 2013 herrschte, ist inzwischen Frust und Hoffnungslosigkeit gewichen. "Ist Erdogan erst Präsident", sagt Hanen, "dann wird er noch mächtiger sein, dann kann ihn keiner mehr stoppen." Denn das hat Erdogan schon angekündigt, er will kein zeremonieller Präsident sein, also nicht nur repräsentieren und abnicken. Er will die Möglichkeiten der Verfassung voll ausnutzen und regieren. Und sollte es da irgendwelche Hindernisse geben - die Verfassungsrichter kann er als Staatsoberhaupt künftig selbst bestimmen.
Nadja Kriewald moderiert seit 1997 das n-tv Format "Auslandsreport" und leitet die Redaktion. Derzeit berichtet sie aus der Türkei über die Präsidentenwahl.
Quelle: ntv.de