Snowdens Jahr im Exil "Ein Heuhaufen aus menschlichem Leben"
19.07.2014, 17:35 Uhr
"Russland ist ein modernes Land (…) es hat mich gut aufgenommen", sagt Snowden über seinen derzeitigen Zufluchtsort.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der Whistleblower Edward Snowden gibt dem britischen "Guardian" ein langes Interview über sein vergangenes Jahr in Russland und die Entwicklung der staatlichen Internetüberwachung. Was hält er von Putin, Deutschland und George Orwells "1984"?
Seit rund einem Jahr befindet sich Edward Snowden im Exil in Russlands Hauptstadt Moskau. Der ehemalige NSA-Mitarbeiter, der mit seinen Enthüllungen über die Praktiken US-amerikanischer und britischer Geheimdienste eine politische Lawine von internationaler Tragweite auslöste, kann das Land wegen eines Haftbefehls der Regierung seiner Heimat USA nicht verlassen.
Journalisten der britischen Zeitung "The Guardian", der Snowden im Juni 2013 als erstes seine Dokumente anvertraute, sprachen jetzt in einem Moskauer Hotel über sieben Stunden lang mit dem schmächtigen 31-Jährigen. Sie befragten ihn zu seinem Leben im Exil, seiner Meinung über die weitere Entwicklung staatlicher Abhörmethoden und die Rolle Deutschlands im Abhörskandal. n-tv.de fasst die wichtigsten Punkte des Interviews zusammen:
Wie geht es ihm ein Jahr nach den Enthüllungen?

Die im Fernsehen übertragene Befragung von Wladimir Putin nennt Snowden ausdrücklich einen "Fehler".
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"Viele Leute haben gehofft, dass sie mich traurig und isoliert sehen würden", sagt Snowden. Dabei fühle er sich sogar eher weniger isoliert als noch vor zwölf Monaten. Er arbeite derzeit an der Finanzierung einer Stiftung für eine neue Initiative zur Pressefreiheit, die Journalisten auch in Zukunft eine abgesicherte Kommunikation ermöglichen soll.
Zudem habe ihm die weltweite und vielfach positive Resonanz auf seine Tat bekräftigt, weiter gegen die NSA-Überwachung vorzugehen. Ansonsten versuche er, Russisch zu lernen und lese Dostojewski oder die Memoiren des früheren Whistleblowers Daniel Ellsberg, der die Irreführung durch die US-Regierung im Vietnamkrieg publik machte. "Ich denke, es gibt Leute, die mich unbedingt traurig sehen wollen. Und die werde ich weiterhin enttäuschen."
Kann er sich frei bewegen?
"Bevor ich zum Einkaufen gehe, ziehe ich mir eine Groucho-Marx-Brille und einen falschen Schnurrbart über", scherzt Snowden und erklärt, dass er versuche, ein möglichst normales Leben zu führen. Zwar sei sein Tagesrhythmus in Russland eher an der US-Zeit ausgerichtet, aber er könne beispielsweise weitgehend unbehelligt in den Supermarkt gehen. Er gehe allerdings davon aus, dass er zumindest "unter einer gewissen Form der Beobachtung" sowohl durch die USA als auch durch seinen Gastgeber Russland steht. Eine "Bedrohung oder Schlimmeres" sei daher nicht auszuschließen, wenn seine täglichen Wege oder seine momentane Unterkunft bekannt würden.
Wie finanziert er sich?
Entgegen anderslautender Berichte arbeite er keineswegs für die russische Regierung, sei aber vorerst finanziell abgesichert. Neben Erspartem aus seiner Zeit als NSA-Analyst verdiene er zudem an Preisgeldern für diverse zivilgesellschaftliche Auszeichnungen und Honoraren für Redebeiträge, die er zu verschiedenen Anlässen weltweit per Video gegeben hat. Freunde hätten ihm eindringlich dazu geraten, sich stärker darzustellen. Nicht zuletzt, um seine Akzeptanz in den USA zu erhöhen. Jedoch wolle er sich nicht gerne als Prominenten verstanden wissen.
Wie ist sein Verhältnis zu Russlands Regierung?
Snowden sagt deutlich, dass seine im Fernsehen übertragene Frage an Wladimir Putin "ein Fehler" gewesen sei. Überdies bezeichnet er zum Beispiel die Spekulationen eines Redakteurs des britischen "Economist", er habe bereits im Jahr 2010 bei einer Reise nach Indien russische Kontakte getroffen, ausdrücklich als "bullshit." Er habe kein einziges seiner Dokumente nach Russland mitgebracht und habe von dort aus auch keinen Zugriff darauf. Zusätzlich habe er niemals geplant, nach Russland zu gehen. Dies geschah "aus purem Zufall". Er wiederholt zwar seine Kritik am russischen Umgang mit Menschenrechtsfragen und Meinungsfreiheit, sagt aber auch: "Russland ist ein modernes Land (…) es hat mich gut aufgenommen." Ihm sei bewusst, dass seine Gegner jedoch versuchen würden, ihn als "nützlichen Idioten" des Kreml darzustellen.
Fürchtet er, mit seinen Enthüllungen der Sicherheit der USA geschadet zu haben?
"Die Tatsache, dass die Leute wissen, dass ihre Kommunikation überwacht werden kann, hält sie nicht von (digitaler) Kommunikation ab. Denn man kann entweder das Risiko akzeptieren oder die Kommunikation gleich ganz einstellen", stellt Snowden klar. Wenn aber seine Öffentlichmachung der Überwachung dazu geführt habe, dass terroristische Vereinigungen oder andere Kriminelle sich nicht mehr den Methoden moderner Kommunikation bedienen, so betrachte er dies als Sicherheitszugewinn und nicht als Verlust.
Gleichzeitig sei die vonseiten der US-Regierung genutzte Metapher des "Heuhaufens", in dem man suchen müsse, um eine Nadel zu finden, grundsätzlich falsch. "Dieser 'Heuhaufen' besteht aus menschlichem Leben. Das sind all die privaten Informationen über die intimsten Handlungen unseres Lebens, die gesammelt, durchsiebt und gespeichert werden. Man könne dadurch, dass man Menschen, deren Taten, Aussagen und Kontakte jederzeit umfassend überprüft, sicherlich kriminelle Aktivitäten aufdecken. "Aber ist das die Gesellschaft, in der wir leben möchten? Das ist die Definition eines Überwachungsstaats." Damit erfülle sich George Orwells gesellschaftskritischer Roman "1984" nicht nur, sondern würde durch die heutigen technischen Möglichkeiten sogar noch weit überholt.
Was genau am Vorgehen der NSA hat ihn bewogen, sich an die Öffentlichkeit zu wenden?

Neu im Dropbox-Vorstand: Condoleezza Rice, die "größte Gegnerin von Privatsphäre, die man sich vorstellen kann".
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Die gezielte digitale Überwachung Verdächtiger hält Snowden grundsätzlich für sinnvoll und vertretbar. Allerdings sei es in seiner Zeit bei der NSA regelmäßig vorgekommen, dass beispielsweise einige der jungen männlichen Mitarbeiter Nacktfotos von attraktiven Frauen ausgetauscht hätten, die sie in deren privaten Daten gefunden hätten. "Diese Jungs landen plötzlich in einer extrem verantwortungsvollen Position und haben Zugriff auf all deine Daten."
Sein eigenes Beispiel zeige, dass es mit einer Eignungsprüfung der Mitarbeiter auch nicht weit her sein könne, da er als relativ junger Mitarbeiter einfach mit den geheimsten Unterlagen habe davonspazieren können: "Die hatten keinen Schimmer." Wenn Dinge wie das Eindringen in ein fremdes Haus oder das ungefragte Fotografieren anderer Menschen in der analogen Welt verboten sind, warum sollte dies dann in der digitalen Welt anders sein? Und wo sei der Beweis, dass die Überwachung kosteneffizient beziehungsweise überhaupt effektiv ist?
Wie nutzt er selbst inzwischen das Internet?
Snowden würde zum Beispiel Google oder Skype nicht für persönliche Informationen nutzen. Auf die Frage nach Dropbox, muss er gar lachen: "Die haben gerade erst Condoleezza Rice in ihren Vorstand aufgenommen, die wahrscheinlich die größte Gegnerin von Privatsphäre ist, die man sich unter den Offiziellen überhaupt vorstellen kann. Also Dropbox hat wirklich was gegen Privatheit", erklärt Snowden und empfiehlt stattdessen SpiderOak, ein komplett verschlüsseltes Filesharing-System.
Wichtig seien für die Geheimdienste allerdings weniger direkte Kommunikationsdaten, wie etwa Telefongespräche, sondern vielmehr die Metadaten, die Zeit, Dauer und Ort von Kommunikation wiedergeben. "Am Telefon lügen die Leute oder nutzen Codewörter. Metadaten lügen nicht."
Was sind die größten Herausforderungen, denen sich die Überwachungsgegner gegenübersehen?
Snowden nennt zwei Hauptprobleme, wenn es um die Rolle der Politik im Zusammenhang mit dem Abhören der eigenen Bürger geht. Erstens: Politiker und Geheimdienste stünden sich zu nahe. Kein Politiker wolle es riskieren, durch Konfrontation mit den Chefs der Geheimdienste von diesen als zu "schwach" dargestellt zu werden, wenn es um die Interessen des Landes geht.
Und zweitens: In den meisten Ländern falle die Aufgabe der Überwachung der Geheimdienste den ältesten und langgedientesten Politikern oder Richtern zu. Diese, so glaubt Snowden, seien allerdings mit der heutigen Technologie gar nicht mehr vertraut genug, um angemessen entscheiden zu können.
Schließlich: Wie bewertet er die Rolle Deutschlands im NSA-Skandal?
Frustriert winkt Snowden bei dieser Frage ab: "Wahrscheinlich wird es da zu politisch. Und ich hasse die Politik. Das liegt mir einfach nicht und ich hoffe, man bemerkt den Unterschied." Dann kommt er jedoch noch einmal auf die Stasi als Beispiel für die Mentalität der heutigen NSA-Agenten zu sprechen: "Deren Mitarbeiter dachten, sie schützen die Stabilität eines politischen Systems, das sie bedroht sahen. Es waren normale Bürger wie jeder andere auch. Sie dachten, sie tun das Richtige. Aber wenn man heute auf ihre Arbeit zurückblickt, was haben sie dann für ihre Mitmenschen getan? Was haben sie ihren Nachbarländern angetan? Was waren die Auswirkungen ihrer massenhaften und undifferenzierten Spionage?"
Quelle: ntv.de, bwe