Politik

Osteuropa-Experte zu Nawalny-Tod "Ein klarer, vernichtender Sieg des banalen Bösen"

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Nawalny sei "eine historische Figur, zweifelsohne ein Held", sagt Historiker Friedman im Interview.

Nawalny sei "eine historische Figur, zweifelsohne ein Held", sagt Historiker Friedman im Interview.

(Foto: REUTERS)

Der führende russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist tot. Ob getötet oder zu Tode gequält, spielt nach Ansicht des Historikers Alexander Friedman keine Rolle. "Sie wollten ihn umbringen und sie haben es geschafft", erklärt der Osteuropa-Experte. Im ntv.de-Interview spricht er auch über eine gefährliche Botschaft, die der Kreml der Welt damit sendet - und über die Hilflosigkeit des Westens.

ntv.de: Nach russischen Behördenangaben hat sich Alexej Nawalny angeblich bei einem Spaziergang plötzlich schlecht gefühlt und dann das Bewusstsein verloren. Glauben Sie, dass der Kreml-Kritiker ohne Fremdeinwirkung gestorben ist?

Alexander Friedman: Ob es ein natürlicher Tod war oder ob Alexej Nawalny getötet wurde, ist aus meiner Sicht zweitrangig. Es war der russische Staat, der die Rahmenbedingungen geschaffen hat, damit er stirbt. Die ganze Wahrheit werden wir höchstwahrscheinlich ohnehin nicht erfahren, weil eine unabhängige Untersuchung in Russland schlichtweg unmöglich ist. Das war jedoch aus meiner Sicht ganz klar ein Mord. Sie wollten ihn umbringen und sie haben es geschafft.

Alexander Friedman ist promovierter Historiker. Er lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Alexander Friedman ist promovierter Historiker. Er lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Glauben Sie, es gibt einen zeitlichen Zusammenhang mit anderen Ereignissen, etwa der anstehenden Präsidentschaftswahl?

Meines Erachtens gibt es keinen besonderen Grund, weshalb Russland Nawalny ausgerechnet jetzt hätte töten sollen. Einen klaren Zusammenhang mit unmittelbaren politischen Ereignissen sehe ich nicht. Der zeitliche Zusammenhang wird jetzt vor allem von der offiziellen und halboffiziellen Seite in Russland hervorgehoben. So eine Art Verschwörungstheorie, dass irgendwelche westliche Geheimdienste alles getan haben sollen, um einen Schatten auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl und den Triumph von Putin zu werfen.

Meinen Sie also, es gibt Stimmen, die behaupten, westliche Geheimdienste hätten Nawalny umgebracht?

Ja, solche Berichte erscheinen jetzt bei vielen russischen Propagandisten. Damit wollen sie zeigen, dass die russische Regierung angeblich kein Interesse daran gehabt habe, Nawalny umzubringen und sein Tod ihr nur schade.

Welche Botschaft sendet der Kreml mit dem Tod Nawalnys?

Wir haben es mit einer ganz klaren Haltung der russischen Regierung zu tun, nämlich: Uns ist alles egal, wir können uns alles erlauben. Selbst in der Sowjetzeit konnte sich Moskau so etwas nicht leisten. Auch unter den sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew oder Nikita Chruschtschow gab es Dissidenten, die in der Haft gestorben sind. Das kam vor. Aber bei prominenten Häftlingen, deren Schicksal vom Westen aufmerksam verfolgt wurde, hat man darauf geachtet, dass ihnen nichts passiert - vor allem, dass sie nicht in Haft sterben - um dem Ruf der Sowjetunion nicht zu schaden. Von Putin kommt jetzt aber die Botschaft: Uns ist vollkommen egal, was ihr im Ausland denkt. Mit Nawalny abzurechnen, das war, glaube ich, für Putin sehr wichtig. Was mich in dieser Geschichte besonders trifft, ist, dass es eine offensichtliche Verkörperung des Triumphs des Bösen über das Gute ist. Ein klarer, vernichtender Sieg des Bösen. Um es mit Hannah Arendt zu sagen – der Sieg des banalen Bösen.

Nawalnys Vertrauter Leonid Wolkow hatte vergangene Woche im ntv.de-Interview gesagt, Nawalny bleibe auch hinter Gittern der Anführer der russischen Opposition. Sehen Sie irgendeine Figur oder Kraft in Russland, die die Oppositionen jetzt anführen und für Putin noch gefährlich sein könnte?

Eigentlich nicht. Alexej Nawalny hatte in Russland keine Mehrheit hinter sich, aber er war eine moralische Autorität. Das war ein prinzipientreuer Mensch, der für seine Vorstellungen, für seine Ideale gekämpft hat. Und er war bereit, dafür das Übermenschliche zu tun. Er hätte ohne jegliche Probleme in London, in Paris oder in Berlin bleiben können. Man hätte ihn als einen Helden gefeiert, als Gesicht von einem neuen Russland. Sein Prinzip war eben, dass Russland seine Heimat ist und dass er für seine Heimat in Russland kämpfen muss, egal, was das kostet. Und dieses Übermenschliche, diese Opferbereitschaft von Nawalny hat ihn sehr stark von anderen abgehoben.

Es gibt oppositionelle Politiker in Russland, es gibt demokratische Aktivisten, es gibt etliche mutige Menschen. Nawalny hatte die Wahl. Und seine Entscheidung machte ihn zu einem Hoffnungsträger. Ich war nie sein Anhänger und betrachtete ihn oft kritisch. Aber seine Rückkehr nach Russland nach der Vergiftung war eine übermenschliche Tat. Diese Opferbereitschaft hat alles übertroffen. Solche moralischen Autoritäten gibt es in Russland nicht mehr. Deshalb ist es ein dramatischer Verlust für die demokratische Bewegung in Russland und letztendlich für alle, die demokratisch eingestellt sind.

Gibt es jetzt keine Hoffnung mehr für demokratische gesinnte Russen?

Momentan sehe ich keine Hoffnungsträger. Selbstverständlich wird es auch andere Politiker geben. Aber es gibt nicht annähernd Personen, die mit Nawalny vergleichbar sind. Er war ein Volkstribun, er konnte sehr gut reden. Er war ein Politiker durch und durch. Eine Persönlichkeit von so einer Größe, mit so einer Biografie, die gibt es in Russland nicht mehr. Man kann Nawalny nicht ersetzen. Das ist eine historische Figur, zweifelsohne ein Held. Aber wie wir jetzt sehen, ein trauriger Held.

Kann Nawalnys Tod zu Veränderungen in Russland führen?

Ich glaube nicht. Anhänger von Nawalny werden im Ausland natürlich protestieren. Möglicherweise wird es auch in Russland ab und an zu spontanen Aktionen kommen. Aber etwas Größeres erwarte ich nicht.

Und wird er Auswirkungen auf den Ukraine-Krieg haben?

Nein, der Kreml wird seinen Krieg genauso brutal weiterführen.

Was erwarten Sie jetzt von westlichen Regierungen als Reaktion auf Nawalnys Tod?

Für den Westen muss der Tod von Nawalny eine Art Wachmoment werden. Es gibt weiterhin etliche politische Gefangene in Russland und Belarus, über diese Menschen wird kaum berichtet und sie sterben auch in Haft. Wenn die Kreml-Führung den Tod von Nawalny erlaubt - nennen wir das so -, dann können wir uns vorstellen, in welcher Gefahr Menschen, die nicht so bekannt sind, stecken. Etwa Maria Kolesnikowa – seit mehr als einem Jahr gibt es keinerlei Informationen über sie, wir wissen nicht einmal, in welchem Zustand sie ist. Genauso wie über Viktor Babariko, Sergej Tichanowski und viele andere. Der Westen muss verstehen, mit welchem Regime man zu tun hat. Mit einem Regime, das vollkommen skrupellos ist, zu allem fähig ist und keine Grenzen kennt. Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass der Westen momentan nicht in der Lage ist, das Schicksal von Menschen, die aufgrund ihrer Überzeugungen leiden, zu lindern.

Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou

Quelle: ntv.de

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