Politik

Bürgerdialog aus Sicht eines Bürgers Ein teurer Spuk

Kanzlerin Merkel  auf Augenhöhe mit dem Volk.

Kanzlerin Merkel auf Augenhöhe mit dem Volk.

(Foto: picture alliance / dpa)

Kanzlerin Merkel führt in Bielefeld den vorerst letzten Bürgerdialog. Das Fazit nach drei dieser Diskussionsabende: Überraschende Impulse, radikale Ansätze oder zumindest unterhaltsame Utopien sind bei dem 1,5 Millionen Euro teuren Projekt äußerst rar. Stattdessen bieten die Debatten großen Interessenvertretungen eine Plattform für altbekannte Forderungen.

Der Bürgerdialog ist "Geldverschwendung" und "Wahlkampf". Das sagte Heinrich Quakernack, bevor er daran teilnahm. Dann wurde er zu einem von 100 ausgewählten Bürgern, die sich in der Bielefelder Stadthalle mit Kanzlerin Angela Merkel trafen und über die Zukunft Deutschlands sprachen. Ein Gespräch, das seine Meinung änderte. Jetzt hält er das Projekt nur noch für Geldverschwendung. Der Bürgerdialog aus der Sicht eine Bürgers.

Die Veranstaltung in Bielefeld war der dritte und vorerst letzte Diskussionsabend des Projektes des Bundeskanzleramts. Zuvor debattierte die Kanzlerin schon in Erfurt und Heidelberg, um herauszufinden, was sich das Volk wünscht, welche Ideen es für Deutschland hat. Das Ziel des Projektes: Die Vorschläge der Bürger sollen der Kanzlerin helfen, eine Vision für ihr künftiges politisches Wirken zu entwickeln.

Doppelschlag des Bauernverbands

Warum machte der Bürger Quakernack da mit, wenn er von dem Projekt doch "überhaupt nichts" hielt? Die Hälfte der Gäste in Bielefeld hatte sich bei Regionalzeitungen für die Veranstaltung beworben. Sie wurden durch ein Losverfahren ausgewählt. Die anderen wählte das Bundeskanzleramt selbst aus. Sie sollten sich aus sozial und gesellschaftlich besonders engagierten Menschen zusammensetzen. Quakernack lud man als Vorsitzenden eines regionalen Bauernverbandes ein. Er blieb skeptisch, wie er sagt, war aber auch viel zu neugierig, um fernzubleiben. Vielleicht auch wegen des Themas.

Heinrich Quakernack, Teilnehmer des Bürgerdialogs: "Ich glaube nicht, dass die Bundesregierung aus dieser Veranstaltung viel Honig herausziehen kann".

Heinrich Quakernack, Teilnehmer des Bürgerdialogs: "Ich glaube nicht, dass die Bundesregierung aus dieser Veranstaltung viel Honig herausziehen kann".

Die dritte Debatte widmete sich der Frage: "Wovon sollen wir leben?" Der erste Bürger, der das Wort ergriff, forderte Merkel auf, Zuwanderer stärker zu integrieren, damit sie Gesellschaft und Arbeitsmarkt bereichern. Eine Justiziarin bat die Kanzlerin, weiblichen Führungskräften den Wiedereinstieg in den Beruf nach einer Schwangerschaft zu erleichtern. Und ein Friseurmeister klagte über unterqualifizierte Bewerber. Merkel hörte vor allem zu und nickte oft. Es gehe ihr um die Ideen der Bürger, sagte sie immer wieder. Die Positionen ihrer Partei behielt sie meist für sich. Sieht so Wahlkampf aus? Ja, sagt die Opposition. Nein, sagt der Bürger Quakernack. "Sie hat viel nachgefragt", erklärt der 57-Jährige, "das ist keine Parteipolitik".

Angesichts seiner Funktion im Bauernverband lag Quakernacks Thema für die Debatte auf der Hand: In Bielefeld wird die Autobahn 33 ausgebaut und zerstört kostbare landwirtschaftliche Nutzfläche. Quakernack nahm sich vor, der Kanzlerin zu sagen, dass sie mehr Äcker und Weideflächen erhalten soll. Doch das klappte überraschend nicht. Ein anderes Mitglied des Bauernverbands kam ihm mit der Forderung nach einem "Flächenschutzprogramm" zuvor. Gleich zwei Vertreter des Bauernverbandes bei nur 100 Gästen. Ein Zufall?

Eine "funktionärsgeprägte" Debatte

Obwohl ihn die Verstärkung durch den Kollegen freute, kritisiert Quakernack, dass die gesamte Debatte "funktionärsgeprägt" war. Und ein Blick auf die Teilnehmerliste gibt ihm recht: Mit Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Handwerkskammern und etlichen anderen Abgesandten waren die großen Interessenvertretungen Deutschlands beim Bürgerdialog äußerst präsent. Das ist an sich wohl nicht schlecht. Schließlich ist das besondere gesellschaftliche und soziale Engagement dieser Institutionen unbestritten, und darum ging es ja den Organisatoren des Bürgerdialogs. Nur hat diese Auswahl eine Kehrseite.

"Ein Querschnitt der Gesellschaft entsteht so natürlich nicht", meint Quakernack. Und nicht nur das. Sei es der Deutsche Gewerkschaftsbund oder der Bund für Umwelt- und Naturschutz – die Institutionen, die die Gästeliste des Bürgerdialogs dominierten, sind nicht unbedingt dafür bekannt, ihre Forderungen für sich zu behalten. Angela Merkel war das deutlich anzumerken.

Die Welt steht Kopf: Beim Bürgerdialog hört Merkel den Bürgern zu, nicht anders herum.

Die Welt steht Kopf: Beim Bürgerdialog hört Merkel den Bürgern zu, nicht anders herum.

(Foto: picture alliance / dpa)

Immer wieder neigte sie ihren Kopf zur Seite, während sie zuhörte, formte mit ihren Händen jenes typische Rechteck vor ihrem Bauch und versuchte die Redebeiträge so kurz wie möglich zu halten. Offensichtlich überraschte sie kaum eine der Wortmeldungen. Besonders deutlich zeigte sich das, als ihr Quakernacks Kollege vom Bauernverband seine Forderung nach einem Flächenschutzprogramm vortrug. "Ich weiß, ja …", sagt sie, oder: "Ich glaube, dass ich das jetzt gut verstanden habe". Merkel hat das Thema mit dem Verband schon lange vor dem Bürgerdialog beim Deutschen Bauerntag besprochen.

Kein Wunder also, dass Quakernack sagt: "Der Kanzlerin konnte man nichts mehr erzählen". Sie stecke schließlich schon drin in diesen Themen. Und so ist es auch kein Wunder, dass Vorschläge, die nicht schon seit geraumer Zeit inflationär auf dem Ideenmarkt in Deutschland gehandelt werden, rar waren. Radikale Vorschläge oder Utopien, Vorschläge, denen es vielleicht gelingt, eingefahrene Denkmuster aufzubrechen und auch die Kanzlerin überraschen könnten, gab es kaum. Und das galt nicht nur für Bielefeld, sondern auch für Erfurt und Heidelberg.

Gewagt: die 30-Stunden-Woche

Zu den gewagtesten Thesen zählte sicher die Forderung eines 17-jährigen Schülers, der sich für die 30-Stunden-Woche einsetzte, "damit das Leben nicht hinten runterfällt". Oder die Idee eines Studenten, ein nationales Bildungsportal im Internet aufzubauen, das allen Bürgern Zugang zum Lernstoff von der ersten Klasse bis zum Grundstudium ermöglicht."

Dank der Gewerkschaft kamen aber immer wieder altbekannte Forderungen zu Themen wie  auf, und durch Vereine und Verbände die Bitten um mehr Fördergelder.

"Ich glaube nicht, dass die Bundesregierung aus dieser Veranstaltung viel Honig herausziehen kann", sagt dann auch Heinrich Quakernack. Für das, was der Bürgerdialog leistet, findet er "den Spuk" daher ziemlich teuer.

Inklusive einer begleitenden Internetkampagne, bei der Bürger der Kanzlerin Vorschläge über das Netz schicken können, und mehr als 100 Experten, die Merkel bei dem Projekt beraten, kostet "der Spuk", von dem Quakernack spricht, mehr als 1,5 Millionen Euro.

Quelle: ntv.de

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