Politik

Angeklagte aus einer anderen Welt Ende des Piratenprozesses naht

Der Prozess sorgte seit seinem Beginn für Aufsehen. Neben den zehn Angeklagten, zwanzig Verteidigern, drei Dolmetschern, Richtern und Gutachtern drängten sich auch etliche Journalisten und Schaulustige in den Saal 337 des Hamburger Landgerichts.

Der Prozess sorgte seit seinem Beginn für Aufsehen. Neben den zehn Angeklagten, zwanzig Verteidigern, drei Dolmetschern, Richtern und Gutachtern drängten sich auch etliche Journalisten und Schaulustige in den Saal 337 des Hamburger Landgerichts.

(Foto: dpa)

Es ist der erste Piratenprozess auf deutschem Boden seit Jahrhunderten. Und es ist ein Mammutverfahren, das Millionen von Euro verschlingt. Es zeigt die Grenzen der deutschen Justiz auf und die Absurditäten beim Aufeinanderprallen zweier Welten. Nach zwei Jahren neigt sich der Prozess nun dem Ende zu, schon heute fällt das Urteil.

Fünf Kalaschnikows, zwei Raketenwerfer, Enterhaken und Granaten – als die Gerichtsverhandlung gegen zehn Piraten aus Somalia im November 2010 in Hamburg begann, lag der Staatsanwaltschaft kiloweise Beweismaterial vor. Auch ein Video gehörte dazu: Es dokumentiert die Festnahme der Männer auf frischer Tat. Zu einem kurzen Prozess kam es trotzdem nicht – im Gegenteil. Seit fast zwei Jahren beschäftigt der Fall die Justiz. Mehrere Millionen Euro dürfte er verschlungen haben.

530 Seemeilen vor der Küste Somalias griffen die Angklagten die "Taipan" an - mit Sturmgewehren und Raketenwerfern.

530 Seemeilen vor der Küste Somalias griffen die Angklagten die "Taipan" an - mit Sturmgewehren und Raketenwerfern.

(Foto: dpa)

Wenn das Landgericht der Hansestadt nun am Freitag sein Urteil über jene Männer vom Horn von Afrika fällt, endet ein Mammutprozess. Dass der Prozess so lange Jahre dauerte, hat mehrere Gründe. Obwohl rein strafrechtlich ziemlich eindeutig, musste die Hamburger Justiz einen bisher einmaligen Fall in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik bewältigen. Vor allem aber musste sie all die Hindernisse aus dem Weg schaffen, die sich auftürmen – wenn in einem Gerichtssaal zwei Welten aufeinanderprallen.

Angriff mit Badelatschen und Sturmgewehren

Was war geschehen? In Badelatschen und Shorts, auf winzigen Skiffs hatten die zehn Angeklagten am 5. April 2010 das Containerschiff "Taipan" 530 Kilometer vor der Küste Somalias angegriffen. Sie feuerten mit ihren Sturmgewehren auf die Brücke, schlugen die Besatzung des Frachters in die Flucht. Doch dem Kapitän und seiner Crew gelang es, von einem Sicherheitsraum aus ein Notsignal abzusetzen. Ehe die Somalier das Schiff gänzlich unter ihre Kontrolle bringen konnten, überwältigte ein niederländisches Marinekommando die Piraten.

Da die "Taipan" unter deutscher Flagge fuhr und einer Hamburger Reederei gehörte, ließ die Bundesrepublik die Männer vom 6000 Kilometer entfernten Horn von Afrika einfliegen. Es galt, den Männern ein faires Verfahren zu gewähren. Es galt, Rechtsstattlichkeit zu demonstrieren. Erstmals seit den Tagen der Vitalienbrüder und anderer Seeräuberbanden, die Mitte des vergangenen Jahrtausends in Nord- und Ostsee ihr Unwesen trieben, handelte sich die deutsche Justiz so einen Piratenprozess ein.

Wohl auch angesichts des großen Aufsehens, für das die Somalier in Hamburg sorgten, standen jedem der Männer sicherheitshalber gleich zwei Verteidiger zu Seite. Hinzu kamen drei Dolmetscher und eine Reihe von Sachverständigen. Alles musste mit rechten Dingen zugehen. Allein diese Logistik war gewaltig. Vor dem Prozessauftakt hieß es trotzdem, das Verfahren würde nur "einige Monate" dauern.

"Ich wurde unter einem Baum geboren"

Die Niederlande lieferten die Angreifer der "Taipan" an Deutschland aus.

Die Niederlande lieferten die Angreifer der "Taipan" an Deutschland aus.

(Foto: dpa)

Warum es anders kam, warum der Fall die Justiz bis an ihre Grenzen fordern würde, zeigte sich dann aber schon beim ersten protokollarischen Akt des Prozesses: der Feststellung der Identität der Angeklagten. Schon die Suche nach der korrekten Aussprache und Schreibweise der Namen der Angeklagten sorgt für Verzögerungen. Wirklich kompliziert wurde es, als es um das Alter der Männer ging. Mehrere der Angeklagten wissen es schlicht nicht. Einer sagte: "Ich wurde 1986 geboren, in der Regenzeit." Ein anderer: "Ich wurde unter einem Baum geboren. Ich denke, ich bin jetzt 20 Jahre alt."

Anhand von Röntgenaufnahmen der Handknochen, Zähne und Schlüsselbeine versuchen Gutachter zumindest sicherzustellen, dass alle Angeklagten überhaupt strafmündig sind. Tagelang beschäftigte die Aussagekraft von Messungen der Wachstumsfugen die Prozessbeteiligten.

Noch schwieriger macht nur die politische Dimension des Falles den Prozess. Somalia ist das Paradebeispiel für einen gescheiterten Staat. Seit dem Sturz von Diktator Siad Barre 1991 gibt es keine funktionierende Regierung mehr. Milizen wie die Al-Shabaab kontrollieren weite Teile des Landes. Bevor die Angeklagten in Deutschland ankamen, wussten sie nicht, was ein Rechtsstaat ist.

Einer der Somalier schilderte, dass sein Sohn entführt wurde von einem Mann, dem er rund 1000 Dollar schuldete. Da auf die somalische Justiz kein Verlass gewesen sei, habe er versucht, die Summe durch den Angriff auf die "Taipan" zu beschaffen.

Drei Mahlzeiten am Tag: "Unvorstellbar"

Somalia gilt zudem als eines der ärmsten Länder der Welt. Das Land wird immer wieder von Dürren heimgesucht, die Meere sind überfischt – auch durch europäische Fangflotten. Bei seinem Schlussplädoyer sagte einer der Männer, dass er während seiner Zeit in Deutschland drei Mahlzeiten am Tag bekommen hat und ärztlich versorgt wurde, sei für ihn "unvorstellbar". Einigen ging es nach eigenen Angaben mit der Kaperfahrt nur darum, zu überleben.

Einer der drei jüngsten Beschuldigten, die allesamt unter das Jugendstrafrecht fallen und im April aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, sagte, er sei unendlich dankbar, dass er in Deutschland zur Schule gehen dürfe. "Es ist für mich wie ein Traum. In Somalia habe ich nie eine Chance gehabt."

Verzweiflungstat oder brutaler Angriff

Die Verteidigung bezeichnet den Angriff auf die "Taipan" denn auch als Verzweiflungstat, plädiert angesichts all dieser Umstände auf Freispruch oder zumindest eine geringe Strafe. "Wir maßen uns hier an, Recht zu sprechen nach unseren deutschen Vorstellungen über Menschen, deren Lebenssituation wir nicht mal annähernd nachvollziehen können", sagte einer der Verteidiger.

Die Staatsanwaltschaft will das maximale Strafmaß bei einigen Angeklagten dagegen fast ausschöpfen. Für den mutmaßlichen Rädelsführer fordert sie 12 Jahre Haft. Für sie ist der Fall strafrechtlich klar: §239a , erpresserischer Menschenraub, und §316c, Angriff auf den Luft- und Seeverkehr.

Trotz der harten Lebensumstände handelt es sich natürlich um einen brutalen bewaffneten Angriff. Auch manch ein Reeder dürfte sich daher ein hartes Urteil erhoffen. Somalische Piraten gefährden mit dem Golf von Aden nach wie vor einen bedeutenden Handelsweg. Trotz der EU-Marinemission Atalanta und dem Einsatz privater Sicherheitsleute an Bord der Handelsschiffe liegt die Zahl der Seeräuberangriffe in der Region nach Angaben des International Maritime Bureau (IMB) allein im ersten Halbjahr 2012 bei 69 Attacken. Piraten halten derzeit 156 Seeleute und sechs Schiffe in ihrer Gewalt.

Neue Beweise könnten Urteil verzögern

Doch würde eine für deutsche Rechtsverhältnisse harte Strafe tatsächlich hungernde Nachahmer im gescheiterten Somalia von weiteren Taten abhalten? Deutlich schwieriger dürfte dem Richter überdies die Antwort auf die Frage fallen, wie sich das Strafmaß auf die Resozialisierungsfähigkeit der Angeklagten auswirkt. Denn sicher ist, dass die Bundesrepublik die Angeklagten nicht mehr ins De-facto-Kriegsgebiet Somalia abschieben kann. Was ist das Ziel der Strafe?

Ausgerechnet am letzten Verhandlungstag vor der geplanten Urteilsverkündung, als die Angeklagten schon ihre Schlussworte sprachen, platzte dann noch aus einem der Somalier heraus, dass er die Telefonnummer einer der Hintermänner des Angriffs auf die "Taipan" habe. Die Justiz musste wieder in die Beweisaufnahme eintreten. Wie sich die neue Lage auf den Zeitpunkt der Urteilverkündung auswirken würde, konnte das Landgericht auch wenige Stunden vor dem Auftakt des letzten angesetzten Prozesstermins nicht sagen. Erst im Laufe des Tages gab es bekannt, dass es die Anträge der Verteidigung auf Prüfung der jüngsten Aussage des Seeräubers ablehnt und den Prozess noch am Nachmittag beenden will.

Quelle: ntv.de, mit dpa

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