Behandlungsfehler in deutschen Kliniken Es ist nicht der Arzt, es ist das System
21.01.2014, 16:35 Uhr
Jährlich sterben in deutschen Kliniken knapp 19.000 Menschen an vermeidbaren Fehlern. Die meisten dieser Fehler sind nicht Folge von ärztlichem Versagen, sondern Ergebnis falscher Strukturen.
"Das Krankenhaus als Risikofaktor", so heißt das erste Kapitel im neuen Krankenhausreport der AOK. Die Zahlen klingen alarmierend: Nach Angaben der Krankenkasse kommen bei einem Prozent der Klinikpatienten Behandlungsfehler vor. In absoluten Zahlen wären das 188.000 Fälle.
Die Zahlen sind Schätzwerte, die sich auf das Jahr 2011 beziehen und auf einem Gutachten aus dem Jahr 2007 basieren. Allerdings betonte Professor Max Geraedts von der Universität Witten/Herdecke, dass es sich um eine "konservative Schätzung" handele. Die tatsächlichen Zahlen wären demnach noch höher.
Geraedts ist einer der Mitherausgeber des Krankenhausreports. Bei der Vorstellung der Studie wies er darauf hin, dass zehn Prozent der Behandlungsfehler tödlich enden. Das sind zwar nur 0,1 Prozent aller Behandlungen, aber immerhin rund 18.800 Todesfälle - fünf Mal so viele wie im Straßenverkehr.
AOK fordert "Raumplanung für das Gesundheitswesen"
Die Ursachen sind vielfältig. In der Regel, so Geraedts, seien Fehler nicht die Folge eines individuellen Versagens, sondern Ergebnis einer Fehlerkette. "Immer dort, wo viele Menschen komplexe Dinge tun, ist das Fehlerrisiko erhöht." AOK-Chef Uwe Deh sagte, es gebe in Deutschland "gute Krankenhäuser" und "tolle Ärzte". Dennoch seien einige Entwicklungen aus Patientensicht bedenklich.
Generell gilt: Knapp die Hälfte der sogenannten unerwünschten Ereignisse in Krankenhäuser dürfte vermeidbar sein. Die häufigsten vermeidbaren Fehler sind falsch verschriebene oder verabreichte Arzneimittel, Komplikationen bei Operationen und Infektionen durch mangelhafte Hygiene. Dieser Diagnose halten die Autoren des Krankenhausreports eine Vielzahl von Therapien entgegen.
Die AOK fordert nichts weniger als eine Umgestaltung der Krankenhauslandschaft. Was fehlt, sei eine "Raumplanung für das Gesundheitswesen", kritisierte Deh. Sein Beispiel: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Baby stirbt, das vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt, ist in Krankenhäusern sehr viel höher, die kaum Erfahrungen mit der Versorgung von Frühchen haben.
Umbau kostet Geld
Die Zahlen sind tatsächlich drastisch: In Krankenhäusern, die weniger als 15 Frühchen pro Jahr versorgen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Baby stirbt, um 87 Prozent höher als in Kliniken mit mehr als 45 Fällen pro Jahr. Ähnlich ist der Befund bei Hüftoperationen, auch hier gibt es deutliche Unterschiede: Komplikationen kommen vor allem in Krankenhäusern vor, die selten Hüft-OPs vornehmen. Als Konsequenz forderte Deh eine "intelligente Krankenhausplanung", die nicht mehr nur Betten und Standorte zählt.
Hier sieht die AOK die Politik in der Pflicht. Die von der Koalition geplante Gründung eines Instituts zur Qualitätskontrolle begrüßte er als "Schritt in die richtige Richtung". Zugleich forderte er, dass die Bundesländer beim Umbau ihrer Klinikstrukturen finanziell unterstützt werden müssten. Während die Länder ihre Investitionen in die Klinken in den vergangenen Jahren zurückfuhren, hätten die gesetzlichen Kassen immer mehr Geld zur Verfügung gestellt. "Damit schaffen wir aber keine Anreize für den notwendigen Umbau der Krankenhauslandschaft", so Deh.
Operationen werden "aus wirtschaftlichen Gründen" durchgeführt
Deh deutete außerdem an, dass Operationen nicht nur aus medizinischen, "sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen" durchgeführt werden. Er sprach von "Fehlanreizen durch strukturelle Defizite", die zu einer Zunahme von Operationen führten, die sich für die Krankenhäuser zwar lohnen, für die Patienten jedoch unnötig sind.
Inwieweit solche Eingriffe auch die Zahl der Fehler beeinflussen, konnte Deh jedoch nicht sagen; Untersuchungen über Behandlungsfehler, die eine Folge von ökonomisch motivierten Eingriffen sind, lägen nicht vor.
Krankenhäuser brauchen "neue Fehlerkultur"
Neben den strukturellen Ursachen für Behandlungsfehler auf der Ebene der Krankenhauslandschaft gibt es allerdings auch Ursachen innerhalb der einzelnen Kliniken. Einige Krankenhäuser beispielsweise erreichen nur eine Händedesinfektion von 50 Prozent. Mit anderen Worten: Nur in der Hälfte aller Situationen, in denen Ärzte oder Pfleger ihre Hände desinfizieren sollten, geschieht dies auch. In guten Krankenhäusern liegt diese Quote bei 80 Prozent.
Geraedts plädierte vor allem für eine "neue Fehlerkultur" in Krankenhäusern: Jeder Mitarbeiter müsse wissen, dass das Sprechen über Behandlungsfehler erlaubt sei. Nur dann können vermeidbare Irrtümer auch tatsächlich vermieden werden.
Quelle: ntv.de