Was wird aus der Ukraine? "Es würde Russland nur ein Wort kosten"
27.05.2014, 14:56 Uhr
Ein Militärtruck mit prorussischen Kämpfern in der Nähe des Flughafens in Donezk.
(Foto: REUTERS)
Die vergangenen Tage verbrachte Karl Schlögel in der Ukraine. Im Interview spricht der Historiker über russische Propaganda und den "tüchtigen" Petro Poroschenko. Die Fortsetzung des Anti-Terror-Einsatzes gegen die "kaputten Typen" im Osten hält er für richtig.
n-tv.de: Herr Schlögel, Sie waren am Wochenende während der Präsidentschaftswahl in der Ukraine. Was hatten Sie für einen Eindruck?

Karl Schlögel ist Osteuropahistoriker und arbeitete bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2013 unter anderem an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Karl Schlögel: Ich war zu einer Konferenz in Kiew. Anschließend bin ich dann nach Dnipropetrowsk und Charkow gefahren. Es war dort erstaunlich ruhig, ein wunderbares Sommerwochenende mit viel Musik auf den Straßen, die Leute saßen in den Gartenlokalen und Parks, es waren Tausende Menschen unterwegs. Man konnte sich nicht vorstellen, dass vier Zugstunden entfernt Kämpfe stattfinden. Das Verrückte ist, dass in dem Land einerseits eine vollständige Normalität herrscht, aber jeder weiß, dass Krieg geführt wird.
Petro Poroschenko wurde zum neuen Präsident der Ukraine gewählt. Ist er der Richtige, um dem Land in dieser schwierigen Situation zu helfen?
Poroschenko ist ein tüchtiger Unternehmer und hat den richtigen Ton gefunden. In früheren Regierungen hat er verschiedene Posten gehabt, ist also kein Anfänger. Er will die Ukraine als zusammenhängendes geeintes Land erhalten, trotzdem möchte er mit Russland ins Gespräch kommen. Ich glaube, er hat von allen Kandidaten den besten Eindruck gemacht.
Die rechtsextremen Kandidaten, Swoboda-Chef Oleg Tjagnibok und Dmitri Jarosch, der Anführer des Rechten Sektors, erhielten bei der Wahl jeweils nur etwa ein Prozent.
Es ist wichtig, dass das Phantom, das in den letzten Wochen so eine große Rolle gespielt hat, verschwunden ist. Immer war die Rede von Nationalisten und Faschisten, die angeblich eine dominierende Rolle innerhalb der Regierung spielen. Die Leute, die die russische Propagandathese vom Faschismus in der Ukraine übernommen haben, sollten jetzt mal Selbstkritik äußern und eine Weile den Mund halten.
Was für ein Signal sendet diese Wahl Richtung Moskau?
Poroschenko hat erklärt, dass er mit Terroristen und Banditengruppen nicht sprechen wird. Das heißt, Gespräche ja, aber nur auf der Basis der ukrainischen Souveränität. Er will den Staat befähigen, mit kriminellen Banden fertigzuwerden.
Gleichzeitig will Poroschenko zu Gesprächen nach Russland reisen. Kann das überhaupt gelingen?
Das hängt ja nicht von Poroschenko ab, sondern von der russischen Seite, die zwar gesagt hat, sie respektiert die Wahl, zugleich jedoch die terroristischen Gruppierungen unterstützt. Es würde Russland nur ein Wort kosten, die Unterstützung für die Separatisten und die infernalische Propaganda, die über die russischen Staatskanäle läuft, einzustellen. Die russische Seite muss jetzt Taten folgen lassen.
Poroschenko will sich mit allen legalen Mitteln für eine Rückkehr der Krim in die Ukraine einsetzen. Die Annektion der Krim hat er mit einem Autodiebstahl verglichen.
Dass die Krim okkupiert und aus der Ukraine herausgerissen worden ist, ist allgemeine Auffassung in der Ukraine, nicht nur die von Poroschenko. Diesen Anspruch wird man aufrechterhalten. Was genau das bedeutet, weiß niemand. Die baltischen Staaten wurden nach dem Hitler-Stalin-Pakt von der Sowjetunion okkupiert. Die Amerikaner haben die Eingliederung dieser Staaten in die Sowjetunion nie anerkannt. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sie ihre Unabhängigkeit und Selbstständigkeit wiedergewonnen haben. Im Falle der Krim geht es um etwas Ähnliches. Dass die Ukraine nicht die Annexion eines Teils ihres Staatsgebietes hinnehmen kann, ist doch selbstverständlich.
Poroschenko hat die Separatisten in der Ostukraine mit den Piraten in Somalia verglichen. Ist der Vergleich angebracht?
In Donezk und Lugansk haben einige Hunderte Leute an bestimmten Punkten die Macht an sich gerissen. Es sind kaputte Typen, professionelle Kämpfer, zum Teil aus Tschetschenien oder mit Afghanistan-Erfahrung. Es sind bezahlte Leute, das weiß man inzwischen. Ihnen geht es um systematische Destabilisierung. Der Plan, diesen Teil der Ukraine zu einem "failed state" zu machen, erinnert wirklich an Somalia.
Den Anti-Terror-Einsatz will Poroschenko fortsetzen. Bei Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Separatisten sind am Montag nach Angaben der Separatisten 35 Menschen gestorben. Ist es nicht fatal, dass kurz nach der Wahl schon wieder alles den für die vergangenen Wochen üblichen Verlauf nimmt?
Die Terroristen nehmen die Bevölkerung als Geiseln und als Schutz gegen die Aktion der Regierungstruppen. Es geht darum, ob man terroristische Gruppierungen unschädlich machen kann. Die Wiederherstellung der Ordnung ist die legitime Aufgabe der ukrainischen Regierung. Die Frage ist, ob das gelingt. Wenn nicht, wird die Diktatur dieser Gruppierung über die städtische Bevölkerung anhalten und sich verfestigen. Das läuft auf ein Jugoslawien neuer Dimension hinaus.
In den vergangenen Wochen schien es, als hätten die Regierungstruppen den Separatisten nicht viel entgegenzusetzen.
Die Ukraine hat keine kriegserfahrene Armee - im Unterschied zur russischen, die durch Einsätze in Abchasien, Georgen und Tschetschenien kampferprobt ist. Die ukrainischen Truppen sind schwach und kaum zur Selbstverteidigung fähig. Sie versuchen es immerhin und man kann nur hoffen, dass sie diesem Spuk ein Ende bereiten.
Mit Karl Schlögel sprach Christian Rothenberg
Quelle: ntv.de