Osten ist falscher Sündenbock Europa sollte weiter wachsen
01.05.2014, 15:38 Uhr
Die EU wird von vielen als zu teuer wahrgenommen. Mit den neuen Ländern im Osten hat das aber nichts zu tun.
(Foto: REUTERS)
Die EU ist zu müde, um weitere Mitglieder aufzunehmen. Das ist ein Fehler. Denn unterm Strich sind die vergangenen Erweiterungen nach Osten ein Erfolg.
Aus Tallinn führt eine gerade, breite Asphaltpiste heraus. An manchen Stellen mangelt es an Verkehrsschildern und Fahrbahnmarkierungen. Aber die Teerdecke ist neu und lässt sich gut befahren. Rechts und links der Straße kann man den neuen Vororten der Hauptstadt Estlands beim Wachsen zusehen, überall drehen sich Kräne über den Baustellen. Estland – das klang vor zehn Jahren noch fremd und weit weg. Dabei wurde die malerische Altstadt Tallinns von Dänen gebaut und über Jahrhunderte von Deutschen bewohnt. Nun kommen jedes Jahr 1,5 Millionen Touristen in die Hauptstadt, das sind mehr Menschen, als ganz Estland an Einwohnern hat. Die neuen Einkaufszentren sind von denen in Westeuropa kaum zu unterscheiden.
Als am 1. Mai 2004 zehn neue Mitgliedstaaten in die EU kamen, befürchteten viele Deutsche, von Kriminellen überrannt und von der Industrie gen Osten verlassen zu werden. Nichts davon ist eingetreten. Im Gegenteil: Viele neue EU-Mitglieder entwickelten sich prächtig.
Eurokrise hat mit dem Osten nichts zu tun
Die Polen überwanden ihr seltsames Faible für die national-konservativen Kaczyński-Zwillinge. Derzeit funktioniert die deutsch-polnische Achse in der Mitte Europas besser als die mit Frankreich. Die Verwaltungen der baltischen Länder sind schlanker und effizienter als in Deutschland. Als Litauen 2013 die EU-Ratspräsidentschaft übernahm, kam niemand deswegen auf die Idee, sich Sorgen zu machen. Dass Prag westlicher liegt als Wien, verwundert schon lange nicht mehr. Slowenische Ferienorte in den Alpen sind von österreichischen kaum zu unterscheiden. Sechs der zehn damals beigetretenen Länder haben den Euro eingeführt. Von diesen sechs hat nur Zypern Probleme bereitet, die mit denen in Irland oder Italien vergleichbar wären. Die einzige Enttäuschung unter den 2004 in die EU gekommenen Staaten ist Ungarn, wo Viktor Orbán die Meinungsfreiheit beschneidet und Rechtsradikale gewähren lässt.
Nun, zehn Jahre nach der größten Erweiterungsrunde der EU, soll es erst einmal keine neuen Mitglieder geben. Das fordert zum Beispiel die CDU. Der Grund dafür liegt allerdings nicht in den 2004 dazugekommenen Staaten. Auch die langsame Entwicklung Bulgariens und Rumäniens, die 2007 EU-Mitglieder wurden, hat wohl nichts mit dieser Forderung zu tun. Die EU ist müde von den Kämpfen um den Erhalt des Euro. Die Milliarden-Kredite, die den Schuldenstaaten gewährt wurden, lassen Europa als ein Luxusgut erscheinen, das vor allem Geld kostet.
Warum nicht weiter für Frieden sorgen?
Mit den möglichen nächsten Beitrittskandidaten Serbien, Montenegro und Mazedonien hat das nichts zu tun. Mazedonien wird die Beitrittsreife offiziell attestiert. Nur wegen eines Namensstreits ist das Land noch kein Mitglied. Serbien ist auf einem guten Weg, das Land funktioniert mittlerweile wie die westeuropäischen Demokratien. Das ist erstaunlich: Bis vor 15 Jahren herrschte noch der autoritäre Slobodan Milošević in Belgrad und führte das Land in Vernichtungskriege. Immer noch erinnern zerfallene Regierungsgebäude an diese Zeit - zerbombt auch von europäischen Kampfjets, um ein Ende des Kosovo-Krieges zu erzwingen. Angesichts dieser Ruinen wirkt es fast wie ein Wunder, dass die Serben nun Mitglied in der EU werden wollen. Ohne diese Perspektive hätte sich das Land auch ganz anders entwickeln können.
Sicher: Angesichts der Entwicklung in Ungarn sollte man sich in Zukunft noch genauer anschauen, wie stabil die demokratischen Systeme der Beitrittskandidaten tatsächlich sind. Auch muss sich die Situation der Roma in diesen Ländern noch deutlich verbessern.
Aber die Europäische Union sollte ohne triftigen Grund niemanden außen vor lassen, der die harten Bedingungen für eine Mitgliedschaft wirklich erfüllt. Hoffnungsvolle Bewerber pauschal abzulehnen, wäre unfair. Seit dem Zerfall Jugoslawiens hat die EU zwei der daraus entstandenen Staaten aufgenommen und drei weitere zu Beitrittskandidaten gemacht. Damit hat sie dort das geschafft, was Politiker so gerne betonen, wenn sie über Europa sprechen: Sie hat für Frieden gesorgt. Es gibt keinen Grund, jetzt damit aufzuhören.
Quelle: ntv.de