Politik

Wie viele Flüchtlinge kommen noch? Exodus hat Europa noch kaum erreicht

Zwölf Millionen Syrer wurden seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs zu Vertriebenen.

Zwölf Millionen Syrer wurden seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs zu Vertriebenen.

(Foto: REUTERS)

Mitunter sind es Tausende am Tag. Die Zahl der syrischen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommt, ist so groß wie nie. Zugleich gilt: In Europa sind noch nicht mal zwei Prozent der Vertriebenen angekommen.

Vergesst die Menschen im Nahen Osten nicht. Das ist derzeit ein Credo von Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Am Montag sagte er der "Süddeutschen Zeitung", man dürfe nicht nur auf die Krise in Deutschland oder Europa achten, sondern man müsse an die Menschen denken, "die sich derzeit überlegen, aus den Flüchtlingslagern in der Türkei, im Libanon oder Jordanien den äußerst gefährlichen Weg nach Europa einzuschlagen".

Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien sind rund 160.000 Flüchtlinge  aus Baschar al-Assads Reich in die Bundesrepublik gekommen. Vor allem in den vergangenen Tagen, als mitunter Tausende Syrer binnen Stunden über die Grenze Österreichs in die Bundesrepublik drangen, lag eine Frage nahe: Wie viele kommen wohl noch? Denn anders als bei den meisten Flüchtlingen vom Balkan ist bei ihnen klar, dass sie einen Anspruch auf Asyl haben. Die Anerkennungsquote liegt bei rund 95 Prozent. Es gilt also, sie langfristig in die Gesellschaft zu integrieren.

Um bei Steinmeiers Credo zu bleiben: Es werden noch viele kommen, wenn die Politik sich nicht schnell um die Nachbarstaaten des Bürgerkriegslandes kümmert. Der Auszug des syrischen Volkes aus seiner Heimat hat Europa noch kaum erreicht.

Vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs lebten in Syrien rund 20 Millionen Menschen. Im fünften Jahr des Kampfes der Regierung gegen Oppositionelle und islamistische Milizen haben nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) 12 Millionen ihre Heimat verlassen. 8 Millionen haben sich vor den Kämpfen gerettet, indem sie im eigenen Land umsiedelten. Rund 4 Millionen flüchteten in die Nachbarstaaten:

  • Türkei: 1,9 Millionen syrische Flüchtlinge
  • Libanon: 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge
  • Jordanien: 600.000 syrische Flüchtlinge
  • Irak: 250.000 syrische Flüchtlinge
  • Ägypten: 130.000 syrische Flüchtlinge

Auf den Weg nach Europa dagegen haben sich bisher kaum zwei Prozent der Flüchtlinge aus Syrien gemacht. Das könnte sich allerdings schnell ändern. Die Lage syrischer Zivilisten in Syrien, aber auch in den Nachbarländern wird immer prekärer.

Die einstige Mittelschicht bettelt

Im Libanon lebte nach UNHCR-Angaben im vergangenen Jahr ein Drittel der syrischen Flüchtlinge in Notunterkünften, die die Organisation als "unzureichend" bezeichnet. Mittlerweile ist es die Hälfte. 70 Prozent leben unter der nationalen Armutsgrenze.

Die Menschen sind auf Hilfsrationen angewiesen. Doch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) musste im Juli zum wiederholten Male seine Programme kürzen, weil das Geld fehlt. Die Menschen im Libanon etwa bekommen jetzt einmal im Monat Gutscheine in Höhe von 13,50 US-Dollar. Das reicht, um die Hälfte ihres Nahrungsbedarfs decken zu können. Da die Ersparnisse der meisten Flüchtlinge nach Jahren im Exil längst aufgebraucht sind, gilt selbst für die einstige Mittelschicht: Um zu überleben, bleiben mitunter nur noch Betteln, Prostitution oder die Illegalität.

In Jordanien verschlechterte sich die Lage ähnlich dramatisch. Mittlerweile leben dort 86 Prozent der syrischen Flüchtlinge unter der Armutsgrenze. Den Menschen fehlt die Perspektive auf einen Neuanfang jenseits des Elends. Deshalb spielt einer Umfrage des Flüchtlingshilfswerks UNHCR zufolge bereits die Hälfte von ihnen mit dem Gedanken, die Flucht über das Mittelmeer zu wagen, obwohl sie nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr durch den Bürgerkrieg schweben.

Zwar bekam das WFP im vergangenen Jahr so viele Spenden wie noch nie, doch die Zahl der Flüchtlinge weltweit ist viel zu groß. Auf dem Koalitionsgipfel im Kanzleramt vor knapp einer Woche sprachen die Vertreter von Union und SPD deshalb bereits über zusätzliche Hilfen für die Nachbarstaaten Syriens. Und sie legten sich darauf fest, dass das Auswärtige Amt jährlich 400 Millionen Euro zur Krisenprävention bekommen soll - unter anderem für die "Unterstützung bei der Versorgung und Betreuung von Flüchtlingslagern in den Krisenregionen". 27 Millionen Euro hat die Bundesregierung in diesem Jahr zudem bereits an das WFP überwiesen. Für die Jahre 2016 und 2017 gibt es weitere Zusagen. Trotzdem gilt: Das Geld reicht nicht.

Selbst, wenn Europa jetzt finanziell noch mal kräftig nachlegen würde, würde die Zahl der syrischen Flüchtlinge auf dem Kontinent aber wohl trotzdem weiter rasant steigen.

Nachbarstaaten schließen ihre Grenzen

Von den 160.000 Syrern in Deutschland sind 100.000 männlich. Das hat einen naheliegenden Grund. Oft wagen die Familienväter als erstes die lebensgefährliche Reise nach Europa. Haben sie es geschafft und Anspruch auf Asyl erworben, versuchen sie Frauen und Kinder, die oft in Syriens Nachbarstaaten ausharren, auf legalem Wege im Rahmen von Familienzusammenführungsprogrammen nachzuholen.

Deutlich größer noch dürfte die Zahl durch die Menschen werden, die erst jetzt Syrien verlassen. Die Kämpfe zwischen Regime, Rebellen und Milizen sind in fast allen Gebieten Syriens heftiger geworden. Zuletzt gerieten insbesondere die Regionen unter Kontrolle von Staatschef Assad unter Beschuss. "Die Rebellen eroberten die Provinz Idlib, im Osten wurden Palmyra und die angrenzenden Ölfeder vom IS übernommen", sagt der Syrien-Kenner Heiko Wimmen n-tv.de. "Im Juni verlor das Regime auch im Süden eine wichtige Militärbasis. Wahrscheinlich wird die Regierung mit Daraa bald eine weitere Provinzhauptstadt evakuieren müssen, weil die Nachschubwege zu schwer zu halten sind." Menschen, die sich bisher durch Assad geschützt fühlten, sind es längst nicht mehr.

Merkel gegen Obergrenzen

Für Menschen, die jetzt aus Syrien rauswollen, wird es zugleich immer schwerer, Schutz in der unmittelbaren Nachbarschaft zu finden. Nur noch die Türkei lässt Syrer ohne Visum einreisen. Jordanien, Ägypten und der Libanon haben die Regeln und Auflagen für Flüchtlinge aus Syrien dagegen verschärft, weil die Staaten sich seit langem nicht mehr imstande fühlen, die vielen Flüchtlinge aufzunehmen. Spätestens seit Deutschland öffentlich erklärt hat, Syrer nicht mehr im Rahmen der Dublin-Regeln in andere EU-Staaten abzuschieben und seit Bilder von Deutschlands "Willkommenskultur" um die Welt gehen, ist die Bundesrepublik dagegen zur Verheißung für viele Syrer geworden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht in der großen Zahl der Neuankömmlinge aber nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance. "Wenn wir Bildung und Integration ermöglichen, werden die Menschen, die zum Beispiel aus Syrien bei uns Zuflucht gefunden haben, unserem Land viel zurückgeben", sagte sie der "Rheinischen Post". "Lassen Sie uns offen und mit Zuversicht an die Aufgabe herangehen." Die CDU-Politikerin fügte hinzu: "Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen."

Quelle: ntv.de

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