Aus dem Slum nach ganz oben Gelingt "Marina" das brasilianische Märchen?
04.10.2014, 21:29 Uhr
Will brasilianische Präsidentin werden, aber nur für eine Amtszeit: Marina Silva.
(Foto: imago/Xinhua)
Nach nur vier Jahren droht Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff die Abwahl. Schuld ist eine Herausforderin, die erst sechs Wochen vor der Wahl nominiert wurde und eine beeindruckende Geschichte mitbringt: Marina Silva.
Wahlkampf ist Wahlkampf, auch in Brasilien. Da kommt es schon mal vor, dass politische Kontrahenten miteinander reden, obwohl sie gar nicht am selben Ort sind. "Wir werden das Familienstipendium weiterführen - und weißt du, warum?", sagte die brasilianische Präsidentschaftskandidatin Marina Silva kürzlich an Amtsinhaberin Dilma Rousseff gewandt. "Alles was meine Mutter für acht Kinder hatte, war ein Ei, ein wenig Mehl, Salz und ein paar gehackte Zwiebeln. Ich sah meine Eltern an und fragte: 'Esst ihr nichts?' Meine Mutter antwortete: 'Wir haben keinen Hunger.' Und ein Kind hat das geglaubt."
Die Angriffe aus der Arbeiterpartei der Präsidentin kann Marina Silva locker an sich abperlen lassen. Warum sollte ausgerechnet sie die " Bolsa Família", die brasilianische Sozialhilfe, abschaffen wollen? Ganz unten: Silva weiß, wie sich das anfühlt. Die 56-Jährige kam in Rio Branco im Amazonasgebiet zur Welt. Drei ihrer zehn Geschwister starben. Als kleines Mädchen erkrankte sie an Malaria und Hepatitis. Der Kampf ums Überleben: Für Silva war er alltäglich, seit sie denken konnte. Ihre Herkunft verschafft ihr heute im Wahlkampf Authentizität. Die zierliche Frau, die an diesem Sonntag die größte Konkurrentin von Amtsinhaberin Rousseff ist, könnte neue brasilianische Präsidentin werden. Es wäre nicht weniger als ein politisches Märchen.
"Einer ernsthafte Herausforderin"
Dabei war Silva eigentlich gar nicht vorgesehen für eine Kandidatur, bis ein tragischer Unfall den Wahlkampf ins Wanken brachte. Der sozialistische Kandidat Eduardo Campos kam am 13. August bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Daraufhin wechselte Vizepräsidentschaftskandidatin Silva, die in Brasilien alle nur "Marina" nennen, kurzerhand in die erste Reihe. Die könnte ihren beeindruckenden Aufstieg nun endgültig krönen. Silva stammt aus ärmsten Verhältnissen. In ihrer Kindheit geht sie nicht zur Schule, sondern sammelt Kautschuk. Erst mit 16 Jahren, sie arbeitet inzwischen als Dienstmädchen, lernt Silva lesen und schreiben. Daraufhin studiert sie Geschichte und Pädagogik und tritt der Kommunistischen Partei bei. In den 80ern ist sie Mitstreiterin des Umweltkämpfers Chico Mendes, der 1988 ermordet wird.
Silva geht ihren Weg weiter. Ab 1994 sitzt sie im Bundessenat, 2003 bis 2008 ist sie Umweltministerin unter Präsident Lula da Silva. Doch als ihre Pläne zum Schutz des Regenwaldes scheitern, tritt sie zurück: erst aus der Regierung, kurz später verlässt sie auch die Partido dos Trabalhadores, der auch Rousseff angehört. Silva wechselt zu den Grünen, kandidiert 2010 für die Präsidentschaft und wechselt wieder die Partei. Anfang 2014 scheitert sie mit der Zulassung für ihr "Nachhaltigkeitsnetzwerk" an der erforderlichen Zahl der Unterschriften. Dennoch kandidiert Silva nun um das höchste Amt im Staat - mit aussichtsreichen Chancen. "Sie hat sich zu einer ernsthaften Herausforderin entwickelt. Noch vor Wochen war Rousseffs Wiederwahl sehr wahrscheinlich. Die ist jetzt plötzlich nicht mehr so sicher", sagt Thomas Fatheuer, der ehemalige Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro. Silva profitiert von einer großen Unzufriedenheit im Land.
Zur Abwechslung skandalfrei
Viele Brasilianer beklagen das stagnierende Wachstum der Wirtschaft, die hohe Inflation und die mangelnden Investitionen vor allem in Bildung. Unvergessen ist, wie Präsidentin Rousseff während der Fußball-WM ausgepfiffen wurde - jedes Mal, wenn sie auf einer der Leinwände im Maracana-Stadion zu sehen war. Die Regierung ist auch wegen ihrer Verwicklung in Korruptionsaffären, jüngst im Umfeld des staatlichen Ölkonzerns Petrobas, umstritten. "Marina macht das sehr geschickt. Sie grenzt sich von Dilma ab, will aber die Politik ihres Vorgängers Lula fortsetzen", sagt Fatheuer. "Ihr Vorteil: Sie ist in keine Skandale verwickelt und markiert eine echte Alternative zu dem System, das tief von Korruption durchzogen ist."
Silva will weniger staatlichen Einfluss in der Wirtschaft, mehr Autonomie für die Zentralbank, Lebenspartnerschaften gleichgeschlechtlicher Paare gesetzlich erlauben, sie will die Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre verlängern, aber die Wiederwahl verbieten. Bei vielen Anlegern weckt sie offenbar große Hoffnungen: Nach ihrer Nominierung zog Silva in den Umfragen gleich an der Amtsinhaberin vorbei. Daraufhin schnellte der brasilianische Aktenindex auf mehr als 61.000 Punkte. Ende September, als Rousseff wieder vorn lag, fiel er auf unter 54.000.
"Dilma hat ihr Potenzial ausgeschöpft"
Die brasilianische Arbeiterpartei hat den maßgeblichen Hauptgegner längst ausgemacht: Es ist nicht der Mitte-Rechts-Kandidat Aecio Neves, sondern Silva, gegen die man in den Tagen vor der Wahl das verbale Trommelfeuer eröffnet. Gegen ihr konservatives und neoliberales Programm, ihre Mitgliedschaft in der evangelikalen Pfingstkirche und die angebliche Abschaffung der "Bolsa Família". Die aktuellen Umfragen des Datafolha-Instituts bereiten der Rousseff-Partei Kopfzerbrechen. Zwar kommt die Amtsinhaberin auf 40 und die Herausforderin nur auf 27 Prozent. Doch die Aussicht auf eine Stichwahl behagt den Parteistrategen nicht.
Wenn keiner der Kandidaten an diesem Sonntag mindestens die Hälfte der gültigen Stimmen erhält - und das ist wahrscheinlich - müssen die beiden stärksten am 26. Oktober in die Stichwahl. Meinungsforscher sehen Rousseff dann zwar mit 47 zu 43 vorn. Doch allzu siegessicher kann man sich im Lager der Präsidentin nicht sein. "Dilma hat ihr Potenzial ausgeschöpft. Bei einer Stichwahl würde sie nicht mehr viel hinzugewinnen. Im Gegensatz zu Marina. Sie profitiert von allen, die nicht für den bisherigen Kurs stimmen wollen", sagt Fatheuer.
Nicht nur das spricht für Silva. Käme es zu einer Stichwahl, fiele ein weiterer Nachteil weg. Im bisherigen Wahlkampf genoss Präsidentin Rousseff das Privileg, fünfmal so viel Redezeit im Fernsehen zu haben. In einem zweiten Wahlkampf bis zur Stichwahl hätten beide jedoch gleich viel. Silva, der die emotionalen Ansprachen liegen, dürfte dies in die Karten spielen, der als Technokratin verschrienen Rousseff eher nicht.
Quelle: ntv.de