Diskussion um Lage im Tiergarten Grüner forciert Verschwörungstheorien
20.10.2017, 14:27 Uhr
Der Tiergarten im Zentrum der Hauptstadt.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der Bürgermeister von Berlin-Mitte beschuldigte die Polizei, mit Rücksicht auf den Tourismus im Tiergarten absichtlich weniger zu kontrollieren. Der Innensenator lässt das als absurd zurückweisen. Die Polizeigewerkschaft ist sauer.
Die politische Wutrede des Stephan von Dassel hatte es in sich. Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte machte sich vor zwei Wochen Luft über die seiner Meinung nach unhaltbaren Zustände Im Tiergarten und riskierte sogar Zoff mit der eigenen Partei, weil er sich offen gegen deren Linie stellte. Die Lage in dem Park sei "außer Kontrolle", das Polizeikonzept gescheitert, schimpfte der Grünen-Politiker und plädierte dafür, notfalls besonders aggressive Obdachlose aus Osteuropa - EU-Bürger hin oder her - des Landes zu verweisen. "Es ist mir relativ wurscht, was die Partei sagt. Ich bin zuallererst meinen Mitarbeitern verpflichtet." Parteikollegen von Dassels gingen auf Distanz. Als das Kommunalparlament am gestrigen Donnerstag das Thema diskutierte, fehlten zahlreiche Abgeordnete der Grünen - offenkundig aus Protest gegen den Bürgermeister.
Selbst die Homosexuellenszene - traditionell den Grünen zugeneigt - bekam ihr Fett weg. Von Dassel beschuldigte das Magazin "Siegessäule", ein populäres Sprachrohr für Schwule und Lesben in der Hauptstadt, den Tiergarten mit seinem Männerstrich als Besuchermagneten Berlins dargestellt zu haben, was nicht angehe. Chefredakteur Jan Noll sagt dazu: "Es gab bei uns natürlich nie eine Berichterstattung, die Prostitution oder auch nur das Cruisen im Tiergarten als besondere Touristenattraktion herausgestellt hätte." Ein Blick in das digitale Archiv des Magazins bestätigt die Darstellung des Redaktionsleiters.
Noll hatte von Dassels Aussagen in der "Berliner Morgenpost" gelesen, wollte den Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen und lud den Bürgermeister zu einem Gespräch ein. Der Grünen-Politiker nahm das Angebot an - für ihn eine Chance, die Wogen zu glätten. Er gab "Siegessäule" ein Interview, in dem er sich um Klarstellungen und Wiedergutmachung bemühte. Er zeigte sich reuevoll und einsichtig.
"So habe ich das nicht gesagt"
In dem von "Siegessäule" im Wortlaut dokumentierten Gespräch erklärte von Dassel: "So habe ich das nicht gesagt. Das möchte ich jetzt auch nochmal klarstellen. Ich unterstelle niemandem - weder der 'Siegessäule' noch dem (Lesben und Schwulenverband Deutschlands – die Red.) LSVD - dass er Prostitution schönredet." Er habe auf unterschiedliche Probleme im Tiergarten verwiesen. Der Park sei "auch als Sexort, als Cruising-Area etabliert", was "manchmal" Prostitution nach sich ziehe. Er habe laut gefragt, "ob wir uns einen Gefallen tun", wenn die Grünanlage als Treffpunkt der Schwulenszene "propagiert und als besondere Attraktivität in Berlin herausgestellt" werde.
Und dann folgten Sätze, die in der Berliner Polizei für Wut, Empörung und Kopfschütteln sorgen sollten. "Allerdings muss ich zugeben, dass ich da ein bisschen aus der hohlen Hüfte geschossen habe und mich nicht auf eine spezielle Veröffentlichung oder Äußerung von wem auch immer bezogen habe. Da war ich vielleicht noch etwas irritiert von einer Aussage der Polizei, die mir sagte, dass sie gerne für mehr Kontrolle und Sicherheit sorgen würde, aber nicht richtig könne, da der Tiergarten und das Cruising-Gebiet dort eine touristische heilige Kuh sei und sie deshalb nicht dürfe. Dabei ist sicherlich etwas durcheinander gegangen."
Das erinnerte an die Vorwürfe, wie sie nach der Kölner Silvesternacht 2015, als Migranten Frauen und Mädchen auf der Domplatte belästigt hatten, gegen Politik und Polizei erhoben worden waren, dass sie Straftaten von Flüchtlingen und Migranten absichtlich unterdrückten. Rainer Wendt, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, sprach damals von einem deutschlandweiten Phänomen: "Jeder Beamte weiß, dass er eine bestimmte politische Erwartungshaltung, die gezüchtet wird, zu erfüllen hat." Dazu bedürfe es nicht mal einer Anweisung eines Innenministers. Sollte es in Berlin anders sein? Sollte es hier eine Anordnung von oben geben? Schließlich sprach der Bürgermeister unter Verwendung des bestimmten Artikels von einer Aussage der Polizei- und das klingt hochoffiziell.
Kein Wunder, dass sich die Gewerkschaft der Polizei (GdP) empörte. Benjamin Jendro, Sprecher der Berliner GdP, sagt: "Mir fehlen bei von Dassels Verschwörungstheorie noch die Freimaurer, der Heilige Gral und die Illuminaten." Er verwies auf das Legalitätsprinzip, das die Polizei dazu verpflichtet, bei jedweder Straftat einzuschreiten. "Es gibt in Berlin keine rechtsfreien Räume, in die unsere Kollegen nicht hereingehen." Es sei politische Aufgabe, der Polizei die Möglichkeiten - allen voran personelle - zu schaffen, gegen Entwicklungen wie im Tiergarten in ausreichender Stärke und Regelmäßigkeit vorzugehen. "Sollte sich von Dassel bei seiner Aussage auf die Einzelmeinung von Kollegen beziehen, zeigt ihm das letztlich, wie unsere Kollegen mittlerweile politisches Handeln in dieser Stadt bewerten."
"Das ist schlichtweg absurd"
Nach Darstellung der rot-rot-grünen Landesregierung und der Polizei entbehrt die Aussage von Dassels jeder Grundlage. Ein Sprecher von Innensenator Andreas Geisel erklärt auf Anfrage, No-Go-Areas für die Polizei existierten in der Hauptstadt nicht. "Dort, wo sie tätig werden muss, wird sie tätig. Es gibt auch keine Anweisung oder ähnliches aus der Innenverwaltung. Das ist schlichtweg absurd."
Thomas Neuendorf, Vize der Pressestelle der Berliner Polizei, telefonierte mit von Dassel. Der Bürgermeister habe nicht mehr von "einer Aussage der Polizei" gesprochen, sondern von"einem Streifenpolizisten" - ein eklatanter Unterschied. Sollte dies ein Kollege tatsächlich so gesagt haben, sei dies "aus nicht nachvollziehbaren Gründen geschehen", betont Neuendorf. "Das ist weder unsere Behördenmeinung noch entspricht es einer Richtline für uns. Es gibt nirgendwo eine Anweisung, dass Kontrollen unterbleiben zu haben, um einer touristischen Sicht zu entsprechen." Im Gegenteil führten die Ordnungshüter gerade an einschlägig bekannten Orten, wozu die Stricherszene im Tiergarten gehöre, "regelmäßig Kontrollen durch - und zwar unabhängig von der momentanen Diskussion".
Darauf angesprochen, dass er mit der Wortwahl "der Polizei" seiner Äußerung einen offiziellen Charakter verlieh, erklärt von Dassel: "Das Interview war im Wortlaut nicht autorisiert." Das bedauere er im Nachhinein, dann hätte er das nicht so stehen lassen. "Ich hatte 'Siegessäule' von einer Plauderei mit einem Polizisten bei einem Einsatz im Tiergarten erzählt, bei der ich dabei war." Wenn sich eine Aktion wie diese über Stunden hinziehe, komme man mit dem einen oder anderen ins Gespräch, wie man dieses oder jenes sieht. Der Polizist sagte, der Tiergarten habe sich als Sex-Ort etabliert und werde als touristisches Markenzeichen gesehen. 'Von oben ist es deshalb gewünscht, dass dort nicht intensiver kontrolliert wird', schilderte von Dassel die Unterredung. So habe er das auch "Siegessäule" berichtete, aber von "einer Aussage der Polizei" gesprochen. "Es ist also keine offizielle Anweisung der Polizei gewesen, sondern die Meinung eines einzelnen Polizisten."
"Siegessäule"-Chefredakteur Noll bestätigt dies. Von Dassel habe gewusst, dass das Interview veröffentlicht werden sollte, aber keine Autorisierung gewünscht. "Während des Interviews lag mein Aufnahmegerät deutlich sichtbar vor ihm auf dem Tisch."“ Den Mitschnitt habe die Redaktion aufbewahrt. "Herr von Dassel gebrauchte an besagter Stelle eindeutig die Formulierung 'eine Aussage der Polizei'."
Auch wenn es sich um einen einzigen Kollegen handeln soll, will GdP-Sprecher Jendro seine Kritik trotzdem nicht zurücknehmen. Seiner Ansicht nach ist es ein Unding, die Meinung eines einzelnen Polizisten, sollte er sich überhaupt entsprechend geäußert haben, offiziellen Status anzudichten. Ein führender Oppositionspolitiker im Landesparlament, der in dem Zusammenhang nicht mit Namen und Partei genannt werden will, sagt: "Das erinnert an die Wahrheitsverdrehungen von Trump und der AfD. Wäre von Dassel nicht bei den Grünen, würde ihm das um die Ohren fliegen." Der Bürgermeister formuliert es so: "Vielleicht habe ich mich an der einen oder anderen Stelle auch etwas missverständlich ausgedrückt."
Quelle: ntv.de