"Hilfe ist immer eine Gratwanderung" Haitis Dörfer sind isoliert
12.01.2011, 13:45 Uhr
Der Ausgleich des Flüssigkeitsverlustes ist bei Cholera-Patienten enorm wichtig. Doch sauberes Wasser ist in Haiti noch immer nicht selbstverständlich.
(Foto: REUTERS)
Nach dem schweren Erdbeben vor genau einem Jahr regiert in Haiti noch immer das Chaos. Die Cholera grassiert und fordert noch immer neue Opfer. Die deutsche Chirurgin Henrike Meyer arbeitet in einem Cholera-Behandlungszentrum des Deutschen Roten Kreuzes in der Gemeinde Arcahaie. Im Gespräch mit n-tv.de beklagt sie den schlechten Zugang der ländlichen Bevölkerung zu Krankenhäusern und spricht von eher schleppendem Fortschritt. Die Hilfsorganisationen sollten aufpassen, die Einheimischen nicht aus der Verantwortung zu entlassen.
n-tv.de: Mit welchen Schwierigkeiten haben Sie zu kämpfen?
Henrike Meyer: Als ich Anfang November meine Arbeit in Arcahaie aufnahm, waren wir von der großen Zahl der Cholera-Neuerkrankungen überwältigt. Wir fingen hier praktisch ohne Personal, Hygieneregeln und feste Strukturen an. Bis Mitte November hatten wir ständig ansteigende Patientenzahlen, teilweise mussten wir über 50 Erkrankte pro Tag behandeln, von denen über die Hälfte stationär aufgenommen wurde. Mitte November kam dann plötzlich ein Abbruch. Im Moment sind die Zahlen deutlich rückläufig - mit Ausnahme eines Dorfes, in dem es zu Beginn dieses Jahres einen neuen Anstieg der Erkrankungen gegeben hat. Arcahaie hat sehr viele solcher Satellitengemeinden, in denen kaum Zugang zu medizinischer Versorgung besteht. Die Bewohner jenes Dorfes müssen mit einem Erkrankten zu einer geeigneten Klinik sechs Stunden wandern.
Das heißt, es fehlen Ärzte vor Ort …
Unser Ziel ist eine mobile Klinik, damit Ärzte und Schwestern Erkrankte auch in einem entlegenen Dorf vor Ort gegen Cholera behandeln können. Wir gehen allerdings schon mit sogenannten "Mobile Teams", bestehend aus zwei Krankenschwestern und einem Hygiene-Promoter, zu den Menschen in die Dörfer. Dort widmen wir uns der Hygiene-Erziehung, klären die Leute über die Cholera auf und erklären ihnen, wie sie damit umzugehen haben, wenn jemand aus ihrer Gemeinde an der Cholera erkrankt. Zudem verteilen wir wasserreinigende Tabletten und Zucker-Salz-Lösungen, die dem Körper verlorengegangene Stoffe ersetzen. Besonders die Aufklärungsarbeit ist sehr wichtig. Die wird ja auch nicht nur von uns unternommen. Im Radio wird ständig durchgegeben, wie man sich zu verhalten hat.
Wie läuft die Zusammenarbeit mit den haitianischen Behörden?
Ich kann hier im Grunde nur für unser Behandlungszentrum sprechen. Es gibt für die Region um Arcahaie einen Direktor, der zum Gesundheitsministerium gehört und sehr bemüht ist und regelmäßig vorbeikommt. Wir haben gemeinsame Ziele. Was er uns vorschlägt, ist eigentlich das, was wir planen: Zugang zu sauberem Wasser in den abgelegenen Gegenden und Stellen für Leute, die kaum Zugang zu Krankenhäusern haben. Wir sind noch nicht ganz auf einem Level, haben noch keine genaue Zuordnung der Aufgaben auf beiden Seiten. Aber eigentlich ist die Kooperation sehr gut. Dazu arbeiten wir auch mit dem in Arcahaie platzierten haitianischen Roten Kreuz zusammen.
Unmittelbar nach dem Erdbeben wurde international viel Hilfe zugesichert. Letztlich gingen nicht einmal zwei Drittel des Geldes ein. Macht sich das vor Ort bemerkbar?
Anfangs hatten wir Schwierigkeiten, bestimmte Dinge hierher zu bekommen. Infusionen und Medikamente, die erst nach der Hauptbehandlung verabreicht werden, waren ausreichend vorhanden. Allerdings hatten wir Probleme, Wasserreinigungstabletten zu bekommen und sie an die Bevölkerung in den entlegenen Gebieten weiterzugeben. Inzwischen sind jedoch vermehrt Ladungen angekommen und mir wurde gesagt, dass ich neu bestellen soll, wenn unsere Mittel zur Neige gehen. Es wäre kein Problem, das heranzuschaffen. Im Rahmen dessen, was wir jetzt machen, sind wir ausreichend versorgt.
Nach den Wahlen am 28. November kam es zu Unruhen. Die Lage ist noch immer angespannt. Schränkt das Ihre Arbeit ein?

Auch im Januar protestieren viele Haitianer gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl und die Regierungspartei Inité.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Es gibt hier zwar vereinzelt Straßensperren, aber das Rote Kreuz ist davon ausgeschlossen. Wenn wir kommen, werden sie sofort geöffnet. Hier in den Bergen bemerkt man gar nichts davon. In Port-au-Prince mag das natürlich ein wenig anders sein. Wir bekommen auch Meldungen, dass wir uns in bestimmten Regionen auf Grund von Unruhen nicht bewegen sollen.
Was sagen Sie zu Vorwürfen, die Hilfsorganisationen würden die Menschen durch bloßes Geben zur Unselbstständigkeit erziehen?
Ich glaube, dass Hilfe immer eine Gratwanderung ist. Es stellt sich immer die Frage, inwieweit wir selbst aktiv werden und inwieweit wir die Menschen einbeziehen sollen. Wir planen selbstverständlich, die Betroffenen zu involvieren, wenn wir zum Beispiel Wasserstellen in entlegenen Dörfern einrichten. Sie müssen dann selbst daran bauen und selbst dafür sorgen, dass sie laufen. Wenn allerdings Menschen nach einem Erdbeben in Flüchtlingslagern auf engstem Raum zusammenleben und keine Möglichkeiten haben, irgendetwas für ihren Lebensunterhalt zu tun, ist es schwierig, sie zu involvieren. Mann muss aber auf jeden Fall aufpassen, nicht derjenige zu werden, der immer nur ausgibt und keine Gegenleistung verlangt. Das kann natürlich zu einer gewissen Passivität bei den Menschen führen.
Ist für Sie ein Ende Ihrer Arbeit in Haiti absehbar?
Ich glaube, das vorauszusagen ist enorm schwer und ich wage da keine Prognose, auch weil ich erst seit Oktober hier bin. Ich kann nicht beurteilen, ob sich die Lage seit dem letzten Frühjahr verändert hat. Aber mir haben viele Leute erzählt, dass es sehr, sehr schleppend vorangeht.
Neben all dem Leid gibt es doch sicher auch den einen oder anderen Hoffnungsschimmer ...

Port-au-Prince liegt nach wie vor in Trümmern. Doch die Menschen warten keinesfalls nur auf die Hilfe anderer.
(Foto: REUTERS)
Ja. Zum Beispiel hatten wir keine Probleme, für unser Behandlungszentrum schnell gut ausgebildete einheimische Krankenschwestern zu finden. Zum anderen kommen immer wieder Menschen vorbei, die nach Arbeit suchen, die versuchen, selbst Initiative zu ergreifen, um aus ihrer wirtschaftlichen Situation herauszukommen. Wenn man durch die Straßen von Port-au-Prince fährt, sieht man zwar überall noch die Trümmer, aber davor haben Leute kleine Stände aufgebaut, versuchen, Dinge zu verkaufen. In den Bergen müssen die Bewohner selber anbauen. Die Bedingungen dafür sind zwar sehr schwierig, aber man lässt sich nicht hängen und wartet darauf, dass irgendjemand vorbeikommt, um zu helfen. Ich glaube, dass in diesem Land sehr, sehr viel Eigeninitiative vorhanden ist. Dies lässt mich hoffen, dass es irgendwann mal wieder besser wird.
Mit Henrike Meyer sprach Michael Kreußlein
Quelle: ntv.de