Flüchtlinge, Anwohner, Polizei In Kreuzberg gibt es nur Verlierer
02.07.2014, 20:17 Uhr
Immer wieder zeigen sich auf dem Dach der Schule die Flüchtlinge mit ihren deutschen Unterstützern.
(Foto: dpa)
Nach achttägiger Belagerung durch ein gewaltiges Polizeiaufgebot dealt die grüne Bezirksregierung offenbar eine Verhandlungslösung mit den 40 Flüchtlingen in der besetzten Berliner Schule aus. Gewonnen hat am Ende dennoch niemand - außer vielleicht Hans-Christian Ströbele.
Grundrechte können ganz schön zermürbend sein. Finden jedenfalls die zwei Handwerker, die vor Ösman Öztürks Späti in der Reichenberger Straße sitzen und ihre Mittagspause genießen wollen. Der mit der Bierflasche in der Hand und dem Hammer am Gürtel will seinem kaffeetrinkenden Kollegen eigentlich erklären, warum das anstehende Viertelfinale gegen Frankreich im Vergleich zum Algerien-Spiel ein Spaziergang wird - aber die Grundrechte sind einfach viel zu laut für Smalltalk. "Wir ham doch langsam verstanden, worum et jeht", brummt der Biermann in Richtung der rund 20 Jugendlichen, die ein paar Meter weiter an der nächsten Kreuzung eine Sitzblockade gebildet haben. Die wollen den zahlenmäßig weit überlegenen Polizisten auf der anderen Seite der Absperrung mit gebetsmühlenartigem Skandieren der ersten 19 Artikel des Grundgesetzes auf ihre ganz eigene Art zeigen, was sie von der Belagerung der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule halten.
Als vor mehr als einer Woche 1700 Polizisten aus mehreren Bundesländern das Gelände um die Schule weiträumig absperrten, um die reibungslose Umquartierung der rund 200 Flüchtlinge, die in der alten Schule Zuflucht gesucht hatten, zu garantieren, ahnte noch niemand, wie gnadenlos die Aktion in die Hose gehen sollte: Rund 40 Schulbesetzer weigerten sich, nach Spandau und Charlottenburg umzuziehen, flüchteten sich in die oberen Geschosse und drohen seitdem damit, sich im Falle einer gewaltsamen Räumung selbst anzuzünden oder vom Dach zu stürzen. Sie fordern ein Bleiberecht und haben Angst, bei einer Räumung unter die Räder der Asylbürokratie zu kommen. Die Flüchtlinge stehen mit dem Rücken zur Wand, als Verhandlungsmasse haben sie nur ihr Leben - alleine schon deswegen muss die Polizei ihre Drohungen ernst nehmen.
"Deswegen bin ich nicht zur Polizei gegangen"
Deswegen - und um zu verhindern, dass die Schule mit Demonstranten und weiteren Flüchtlingen "vollläuft", wie es Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt formulierte - sieht es rund um die Gerhart-Hauptmann-Schule seit acht Tagen so aus, als würde die Bereitschaftspolizei hier ihr bundesweites Sommerfest veranstalten. Nur dass niemandem nach Feiern zumute ist: Die Maschinenpistolen, die die übereifrigen Thüringer Kollegen im Marschgepäck hatten, sind zwar mittlerweile verschwunden, dank Absperrungen und Körperpanzer fühlen sich Reichenberger, Ohlauer und Lausitzer Straße aber immer noch ein bisschen wie Kriegsgebiet an. Rein und raus kommen nur noch Anwohner und Presse.

Anwohner haben aus der Not eine Tugend gemacht und frühstücken mitten auf der abgesperrten Straße - auch aus Solidarität mit den Flüchtlingen.
(Foto: dpa)
Und das nervt alle, sogar die Staatsmacht selbst: "Deswegen bin ich nicht zur Polizei gegangen, das können Sie mir glauben", rutscht es einem bulligen Beamten heraus, der gerade aus einem der bereitgestellten Dixie-Klos steigt. Das entspricht natürlich nicht der offiziellen Linie - ein Blick in die zahlreichen Gesichter seiner Kollegen auf dem Gelände reicht aber, um zu sehen, wie unangenehm den meisten diese Position zwischen allen Stühlen ist. Irgendwie wird nicht so ganz klar, wen die Polizisten hier eigentlich vor wem schützen sollen - ganz im Gegensatz zu dem Unmut, der ihnen aus allen Richtungen entgegenschlägt und mehr als offensichtlich ist.
"Seit einer Woche bekomme ich keine Lieferungen mehr", klagt Ösman Öztürk, dem der Späti in der Reichenberger Straße gehört und schiebt mit einem schiefen Lächeln hinterher: "Ist aber eigentlich nicht so schlimm. Schließlich sind meine Umsätze auch um mehr als 50 Prozent eingebrochen." Wie die meisten Menschen, die man in diesen Tagen im Kiez trifft, hat der Kioskbesitzer den Hauptschuldigen für die ganze Misere ausgemacht. Es sind nicht die Flüchtlinge.
"Nach Strich und Faden von den Grünen verarscht"
"Wenn du Flüchtlinge aufnimmst, musst du auch für ordentliche Bedingungen sorgen", sagt Öztürk und spielt auf die menschenunwürdigen Bedingungen in der Schule an: Als vor rund zwei Jahren die ersten Flüchtlinge die Schule für sich entdeckten, entschied die Grünen-Bezirksregierung, die Besetzung des heruntergekommenen Gebäudes zu dulden. Statt konstruktive Lösungsvorschläge rund um eine mögliche Zukunft der Heimatlosen zu entwickeln, blendeten die Grünen das unbequeme Thema größtenteils aus, während immer mehr Flüchtlinge die Gerhart-Hauptmann-Schule zu ihrem Zuhause machten. Einem Zuhause, dem es am Nötigsten fehlte, in dem die Reibungen der unterschiedlichsten Nationalitäten untereinander immer größer wurden, bis im April dieses Jahres ein Marokkaner beim Streit um die einzige funktionierende Dusche des Gebäudes erstochen wurde. Nun endlich waren die Grünen gezwungen zu reagieren, doch für eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung war es längst zu spät.
" Ich finde es ja völlig in Ordnung, wenn die da oben auf dem Dach sitzen. Sind ja auch nach Strich und Faden von den Grünen verarscht worden", fasst Öztürk die Situation zusammen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Bezirksamt in Gesprächen den Flüchtlingen offenbar immer wieder Hoffnung gemacht hat, deren Forderungen nach einem Bleiberecht nachzukommen. Was allerdings gar nicht in der Macht der Grünen liegt: Dafür bräuchte es das Okay von Berlins Innensenator Frank Henkel - ein rotes Tuch für den CDU-Politiker.
Statt Bleiberecht nun also das krasse Gegenteil. Es sind surreale Szenen, die sich hier, mitten im Herzen von Kreuzberg, dem alternativen Zentrum Berlins, abspielen. Die Grünen, die politisch eigentlich eine ähnliche Linie fahren wie die Flüchtlinge und ihre Unterstützer, entwickeln sich mehr und mehr zum Buhmann der ganzen Geschichte. Der Vorstoß von Stadtbaurat Hans Panhoff, der am Dienstag sogar gegen den Willen von Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann ein Amtshilfegesuch an die Polizei richtete und um die Räumung der Schule bat, setzte dem Ganzen nur noch die Spitze auf: Die Grünen haben ihre eigenen Ideale verraten, lautet die einhellige Meinung auf der Straße. Und im Falle einer Räumung würde ihr Blut an Panhoffs Fingern kleben, haben einige der Flüchtlinge bereits angekündigt.
Ströbele will vermitteln
Es gibt nicht mehr viele, die einen elendig verfahrenen Karren wie diesen noch aus dem Dreck ziehen könnten. Hans-Christian Ströbele ist einer von ihnen: Gut gelaunt wie immer zuckelt er am frühen Nachmittag auf seinem Fahrrad die Reichenberger Straße entlang, hält kurz an der Absperrung und geht dann in Begleitung zweier Polizisten zielstrebig Richtung Schule. Ein gutes Zeichen, denn wo vermittelt wird, wird nicht geräumt. "Aber haben Sie doch bitte Verständnis dafür, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht über den Stand der Verhandlungen reden kann", sagt Ströbele noch schnell, bevor er durch das schmiedeeiserne Schultor schlüpft.
Ströbeles Anstrengungen scheinen tatsächlich von Erfolg gekrönt zu sein: "Der Bezirk hat uns mitgeteilt, dass die Verhandlungsführer ein Ergebnis erzielt hätten", sagt Polizeisprecher Stefan Redlich. Am Abend bestätigt sich schließlich, dass mit den rund 40 verbliebenen Flüchtlingen eine Einigung getroffen wurde: Die ersten beiden Stockwerke sollen geräumt, die dritte Etage und das Dach allerdings weiterhin genutzt werden. Jeder, der noch im Haus ist, bekommt einen Hausausweis. Ein privater Sicherheitsdienst soll den Zugang kontrollieren und damit gemeinsam mit den Verbliebenen verhindern, dass neue Flüchtlinge nachkommen und das Ganze von vorne losgeht. Eine Räumung ist damit vorerst vom Tisch.
Der Ausnahmezustand in der Reichenberger Straße könnte also schon bald ein Ende haben. Zu glauben, dass die Sache damit vom Tisch wäre, ist allerdings ein Trugschluss. Die Grünen haben ihren Kredit in ihrem Herzland weitgehend verspielt, Ströbele hin oder her. Viel schlimmer, weil weiterhin existenzbedrohend, ist dagegen die Situation der Flüchtlinge: Immer noch haben sie keinen gesicherten Status in Deutschland, dürfen weder arbeiten noch ihren Bezirk verlassen. Sie mögen vielleicht den Kampf um die Gerhart-Hauptmann-Schule gewonnen haben, ihrem eigentlichen Ziel sind sie aber keinen Schritt nähergekommen.
Quelle: ntv.de