Fast perfekt getarnt Karadzic gefasst
22.07.2008, 21:48 UhrNach 12 Jahren auf der Flucht ist einer der meist gesuchten mutmaßlichen Kriegsverbrecher jetzt gefasst. Der wegen Gräueltaten während des Bosnien-Kriegs 1992 bis 1995 angeklagte frühere bosnische Serbenführer Radovan Karadzic wurde am Montagabend in einem Vorort von Belgrad verhaftet. Ein serbischer Richter ordnete seine Überstellung an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag an. Dort soll dem 63-Jährigen wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Prozess gemacht werden. Am schwersten wiegt dabei das Massaker von Srebrenica: Bei dem schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg hatten im Juli 1995 bosnisch-serbische Soldaten fast 8000 Muslime ermordet.
Die in wenigen Tagen erwartete Auslieferung Karadzics ist neben der Verhaftung seines früheren Militärchefs Ratko Mladic und des kroatischen Serbenführers Goran Hadzic eine der Hauptbedingungen für eine weitere Annäherung Serbiens an die EU. Beobachter gehen davon aus, dass die erst seit zwei Wochen in Belgrad amtierende neue Regierung unter Führung pro-europäischer Parteien auch Mladic und Hadzic dicht auf den Fersen ist.
Das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wird Experten zufolge ein rasches Verfahren gegen den ehemaligen Serbenführer Radovan Karadzic anstreben. "Das Verfahren kann innerhalb eines Jahres abgeschlossen werden", sagte Avril McDonald von der Universität Groningen. Das Tribunal selbst kündigte an, trotz der nächsten Woche beginnenden Sommerpause alle notwendigen Verfahrensschritte einzuleiten. Es wird erwartet, dass Karadzic gegen Wochenende an das niederländische Gericht ausgeliefert wird.
Fast perfekt getarnt
Die Verhaftung Karadzics löste weltweit Erleichterung aus. Der frühere US-Vermittler im Bosnien-Krieg, Richard Holbrooke, sagte: "Einer der schlechtesten Männer der Welt, der Osama bin Laden Europas, ist endlich gefasst worden."
Der politische Serbenführer im Bosnien-Krieg hatte sich nach Darstellung der serbischen Behörden fast perfekt getarnt und sei deswegen nicht entdeckt worden. Der für die Zusammenarbeit mit dem UN-Tribunal zuständige Minister Rasim Ljajic zeigte ein Foto, auf dem Karadzic in dunkler Kleidung, mit schulterlangen weißen Haaren, einem weißen Vollbart und Brille zu sehen ist. Er habe sein Aussehen von Grund auf verändert. Karadzic habe bis zuletzt in einer privaten Arztpraxis in Belgrad gearbeitet und sich frei in der Stadt bewegt. Er habe sich mit "alternativer Medizin" beschäftigt. Der Gesuchte habe einen gefälschten Personalausweis auf den Namen Dragan Dabic besessen, sagte der Minister.
Randale in Belgrad
In Belgrad haben Anhänger von Karadzic gewaltsam gegen die Festnahme protestiert. Etwa 250 meist junge Demonstranten strömten trotz Versammlungsverbots zum zentralen Platz der Republik und attackierten die Polizei mit Fackeln, Flaschen und Stühlen aus nahen Restaurants, wie Augenzeugen berichteten. Einige Randalierer seien festgenommen worden. Unter den Demonstranten war auch der Generalsekretär der extremistischen Radikalen Partei, Aleksandar Vucic, wie die Nachrichtenagentur Beta meldete. Karadzic wird von großen Teilen der serbischen Bevölkerung immer noch als Volksheld angesehen.
In der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, Sarajevo, feierten Hunderte von Menschen mit Hupkonzerten die Neuigkeit. In der nahe gelegenen früheren Karadzic-Hochburg Pale blieb es dagegen ruhig.
"Versöhnung auf dem westlichen Balkan"
Das Gericht in Den Haag hatte den früheren Serbenführer vor genau 13 Jahren angeklagt, 12 Jahre war er untergetaucht. Nach Darstellung des Tribunals wurde er in dieser Zeit von Helfershelfern in der serbischen Armee, in der Politik und im Geheimdienst gedeckt. Die USA hatten 1998 eine Belohnung von fünf Millionen Dollar für die Ergreifung des meist gesuchten Serben ausgelobt. Die in diesem Jahr gestürzte Regierung des nationalkonservativen Vojislav Kostunica soll eine Verhaftung von Karadzic verhindert haben. Die Nachfolgeregierung hatte dagegen die Überstellung Karadzics an das Tribunal in Den Haag versprochen.
Die Verhaftung des Gesuchten wurde weltweit mit großer Freude und Genugtuung begrüßt. "Endlich, endlich! 13 Jahre!", jubelte Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner. Zugleich wurde die Hoffnung laut, dass Serbien nun zügig Fortschritte in Richtung EU machen wird. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn sagte: "Die Verhaftung von Karadzic ist ein historischer Augenblick für die internationale Justiz und die Versöhnung auf dem westlichen Balkan."
Anwalt kündigt Einspruch an
Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte die Verhaftung eine "gute Nachricht für den gesamten Balkan". UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sagte: "Das ist ein historischer Moment für die Opfer, die 13 Jahre lang gewartet haben, dass Karadzic vor Gericht gestellt wird."
Die Auslieferung wird wegen des juristischen Prozederes frühestens Ende der Woche erwartet. Sein Anwalt Svetozar Vujacic kündigte Einspruch gegen eine Überstellung Karadzics nach Den Haag an. Dafür hat er drei Tage Zeit. Danach muss dann ein Gerichtsgremium ebenfalls innerhalb von drei Tagen entscheiden. Das letzte Wort hat jedoch das serbische Justizministerium.
Karadzic schweigt
Der Beschuldigte schwieg zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen. Er habe bei seiner ersten Vernehmung durch einen serbischen Staatsanwalt das Verfahren gegen ihn als "Farce" bezeichnet, berichtete Anwalt Vujacic. Der früher korpulente Mann sei abgemagert und verweigere die Nahrung. Ein Gerichtsmediziner habe ihn in der Nacht untersucht und ihm eine stabile gesundheitliche Verfassung bescheinigt.
Karadzic hat im Untersuchungsgefängnis Besuch von seinem Bruder und weiteren Verwandten erhalten. Zuvor hatte der zuständige Richter Besuche in der Haft zugelassen, berichteten serbische Medien. Die in Bosnien lebende Frau und die beiden Kinder dürfen Karadzic allerdings nicht sehen. Ihnen ist die Ausreise aus Bosnien untersagt, ihre Pässe sind eingezogen worden.
Der Staatsanwalt für Kriegsverbrechen, Vladimir Vukcevic, sagte, Karadzic sei im Zuge der Suche nach dem ebenfalls flüchtigen Mladic enttarnt worden. Polizei und Geheimdienste hätten die Helfershelfer von Mladic observiert und seien auf Karadzic gestoßen. Die Spezialkräfte der Geheimdienste hätten zugegriffen, als sich Karadzic von einem Unterschlupf zu einem neuen Versteck begeben wollte.
Karadzic behauptet dagegen seinem Anwalt zufolge, er sei bereits am Freitag festgenommen worden. Man habe ihn aus einem Linienbus geholt, der zwischen Neu-Belgrad und der nahe gelegenen Gemeinde Batajnica verkehrt. Ihm sei eine Kappe übers Gesicht gezogen worden, so dass er die Umstände seiner Verhaftung nicht kenne. Seitdem sei er "in einem Raum" festgehalten worden. Der Untersuchungsrichter will diesen Behauptungen nachgehen.
Quelle: ntv.de