Politik

Völkermord-Prozess in Den Haag Karadzic will nicht erscheinen

Kurz vor Prozessbeginn kündigt der ehemalige Serbenführer Radovan Karadzic einen Boykott des "unfairen" Verfahrens an. Ihm sei nicht genügend Zeit für seine Verteidigung eingeräumt worden. Aus Schweden wird bekannt, dass die wegen Kriegsverbrechen verurteilte frühere Präsidentin der bosnischen Serben, Biljana Plavsic, vorzeitig aus der Haft entlassen wird.

Im Mittelpunkt des Prozesses stehen das Massaker von Srebrenica, bei dem 1995 rund 8000 Muslime getötet wurden, und die 43-monatige Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajewo.

Im Mittelpunkt des Prozesses stehen das Massaker von Srebrenica, bei dem 1995 rund 8000 Muslime getötet wurden, und die 43-monatige Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajewo.

(Foto: dpa)

Der wegen Völkermords angeklagte ehemalige bosnische Serbenführer Radovan Karadzic werde zur Prozesseröffnung am kommenden Montag nicht vor den Richtern erscheinen, erklärte Karadzic in einem Brief an den UN-Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. In dem Schreiben versteigt sich Karadzic sogar zu einem Vergleich des UN-Gerichts mit der Nazi-Justiz.

Als wichtigsten Grund für seinen Boykott gibt der 64-Jährige an, ihm sei nicht genügend Zeit zur Vorbereitung seiner Verteidigung eingeräumt worden. Die Staatsanwaltschaft habe ihn "begraben unter einer Million Seiten" von Dokumenten "nur um dann relevantes Material erst viele Monate nach meiner Verhaftung herauszugeben", heißt es in dem vom UN-Gerichtshof veröffentlichten Brief. Darin wirft Karadzic dem Jugoslawien-Gerichtshof indirekt vor, ein Instrument "der Feinde Serbiens und der NATO" zu sein.

Keine Anzeichen für "Vertagung"

Die Gerichtssprecherin Nerma Jelacic erklärte auf Anfrage, es gebe ungeachtet der Boykottankündigung "derzeit keinerlei Anzeichen für eine Vertagung" des Prozesses. "Die Kontrolle über das Verfahren liegt einzig und allein bei den Richtern." Zum Inhalt des Briefes wollte die Sprecherin nicht Stellung nehmen.

Eine bosnische Muslimin trauert über einem der Särge in der Potocari-Gedenkstätte in Srebrenica während der Beisetzung von 308 Opfern des Völkermords (Archivfoto, November 2008).

Eine bosnische Muslimin trauert über einem der Särge in der Potocari-Gedenkstätte in Srebrenica während der Beisetzung von 308 Opfern des Völkermords (Archivfoto, November 2008).

(Foto: picture-alliance/ dpa)

In dem stark polemisierenden Schreiben vergleicht Karadzic sein Verfahren wegen Völkermordes und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bosnienkrieges 1992-1995 mit dem von den Nationalsozialisten inszenierten Prozess um den Reichstagsbrand im Jahr 1933. Damals habe der bulgarische Kommunistenführer Georgi Dimitrow wider Erwarten seinen Freispruch erwirkt. "Sollte ich Dimitrow um die fairen Bedingungen und den fairen Prozess beneiden?", heißt es in Karadzics Brief.

Selbstverteidigung mit Profi-Hilfe

In juristischen Kreisen in Den Haag hieß es, der Prozess könne ohne weiteres auch ohne Karadzics eröffnet werden. Zudem könne der Angeklagte jederzeit auf Anweisung der Richter gezwungen werden, vor dem Gericht zu erscheinen, wenn dies als nötig erachtet wird. Karadzic sitzt im UN-Gefängnis im Haager Stadtteil Scheveningen in Untersuchungshaft. Er verteidigt sich auf eigenen Wunsch selbst. Er wird dabei allerdings hinter den Kulissen von einem professionellen Team unter Leitung des kalifornischen Anwalts Peter Robinson beraten.

Ein Antrag Karadzics auf mehrmonatige Verschiebung des Prozesses war Anfang Oktober von der Berufungskammer des UN-Gerichtshofes abgelehnt worden. Die Richter erklärten, der Angeklagte habe nach seiner Verhaftung im Juli vergangenen Jahres genügend Zeit gehabt, die Vorwürfe gegen ihn zu studieren. Karadzic werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bosnienkrieges von 1992 bis 1995 in elf umfangreichen Fällen vorgeworfen, darunter zwei Fälle von Völkermord.

Plavsic kommt vorzeitig frei

Biljana Plavsic hat zwei Drittel ihrer Strafe abgesessen.

Biljana Plavsic hat zwei Drittel ihrer Strafe abgesessen.

(Foto: dpa)

Unterdessen wurde bekannt, dass die wegen Kriegsverbrechen verurteilte frühere Präsidentin der bosnischen Serben, Biljana Plavsic, in der kommenden Woche vorzeitig aus der Haft entlassen wird. Das schwedische Justizministerium in Stockholm bestätigte einen entsprechenden Regierungsbeschluss. Die 79-Jährige, die 2003 für Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Balkan-Krieg zu elf Jahren Haft verurteilt wurde, hat am 27. Oktober zwei Drittel ihrer Strafe in einem schwedischen Gefängnis verbüßt.

Mitverantwortlich für tausendfachen Mord

Sie war nach Überzeugung des Den Haager UN-Tribunals maßgeblich mitverantwortlich für die Ermordung tausender bosnischer Muslime und ethnische Vertreibungen auch von Kroaten zwischen 1992 und 1995. Bei der vorzeitigen Freilassung hätten das Alter und der Gesundheitszustand Plavsics eine Rolle gespielt, verlautete in Stockholm.

Das UN-Tribunal hatte Mitte September grünes Licht für die vorzeitige Haftentlassung entsprechend schwedischen Gepflogenheiten gegeben. Schweden gehört zu den Ländern, die sich bereiterklärt haben, vom UN-Tribunal für das frühere Jugoslawien in Den Haag Verurteilte aufzunehmen. Im Prozess 2003 hatte Plavsic ihre Schuld bekannt. Sie bezeichnete sich als reuig angesichts von Verbrechen wie dem Massaker in Srebrenica, bei dem 1995 mehr als 8000 bosnische Muslime von bosnisch-serbischen Truppen unter Führung des weiter flüchtigen General Ratko Mladic ermordet wurden.

Plavsic hatte sich im vergangenen Jahr darüber beklagt, dass sie ihre Zeit mit "Prostituierten, Drogenhändlern, Räubern, Dieben und Schwindlern" zubringen müsse und wie diese Leibesvisitationen ausgesetzt sei.

"Speer hatte wenigstens einen Garten"

In einem Interview mit der schwedischen Zeitschrift "Vi" erklärte Plavsic über die Haft im schwedischen Gefängnis Hinseberg: "Ich habe es hier schlimmer als der Nazi Alfred Speer in Spandau. Der hatte immerhin einen Garten." Hitlers früherer Rüstungsminister Speer (1905-1981) wurde im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zu 20 Jahren Haft verurteilt und 1966 nach vollständiger Verbüßung der Strafe im Berliner Kriegsverbrechergefängnis Spandau freigelassen.

Quelle: ntv.de, dpa

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