Polens Quadratwurzel Keine Einigung vor Gipfel
15.06.2007, 09:20 UhrKnapp eine Woche vor dem EU-Gipfel über die Zukunft Europas treten die Gegensätze zwischen den Mitgliedstaaten immer offener zu Tage. Nach einem Besuch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich Spaniens Ministerpräsident Jos Luis Rodrguez Zapatero in Berlin dagegen aus, die im europäischen Verfassungsvertrag vor drei Jahren vereinbarten Reformen der europäischen Institutionen in Frage zu stellen. Polen beharrte hingegen auf der Gegenposition, insbesondere zum Stimmengewicht der einzelnen Länder. Merkel forderte alle Seiten zur Kompromissbereitschaft auf, vermied es aber, Druck auf die Regierung in Warschau aufzubauen.
Vor ihrem Treffen mit Staatspräsident Lech Kaczynski in Meseberg nördlich von Berlin wich Merkel der Frage aus, wie sie denke, die polnische Regierung überzeugen zu können. Es gebe nicht nur ein Land, das mit der Übernahme von Vereinbarungen aus dem gescheiterten Verfassungsvertrag in das neue Vertragswerk große Probleme habe, sagte sie. Ihre Aufgabe als europäische Ratspräsidentin sei es, "alle zusammenzuführen und niemand in die Ecke zu stellen". Bei "gutem Willen aller" kann nach Ansicht der Kanzlerin in der kommenden Woche in Brüssel ein wichtiger Schritt nach vorn gemacht werden.
Zapatero trifft Kaczynski
Zapatero reiste im Anschluss an das Gespräch mit Merkel nach Warschau, wo er um Zustimmung für den europäischen Verfassungsprozess warb. "Wir haben einen Vertrag, der sicher nicht ideal ist, aber es ist ein Vertrag, der es uns erlauben wird, uns weiter zu entwickeln", sagte der spanische Regierungschef nach einem Treffen mit Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski. Zapatero, dessen Land in einem Referendum mit großer Mehrheit die Verfassung angenommen hatte, besteht auf der Neuregelung der Mehrheitsentscheidungen.
Im Gegensatz zum jetzt gültigen System müssten künftig 55 Prozent der Regierungen einer Entscheidung zustimmen, die zudem 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren müssen. An dieser Regelung der "doppelten Mehrheit", die vor drei Jahren nur unter größten Schwierigkeiten zu Stande gekommen war, will auch die Bundesregierung festhalten, weil sie eng mit den notwendigen übrigen Reformen zusammenhängt - wie zum Beispiel der Stärkung des Europäischen Parlaments.
Glaubwürdigkeit Europas steht auf dem Spiel
EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso Polen forderte Polen auf, notwendige Reformen nicht länger zu blockieren. Barroso sagte der "Süddeutschen Zeitung": Alle EU-Regierungen hätten sich auf die Reform der Institutionen verständigt, auch Polen. "Wir können nicht jedes Mal von vorne diskutieren, nur weil es in einem europäischen Land eine neue Regierung gibt." Würde der Gipfel scheitern, wäre die Glaubwürdigkeit Europas in der Welt schwer beschädigt.
Doppelte Mehrheit nicht mit Polen
Aus Polen kam erneut Ablehnung. Im polnischen Parlament verteidigte Außenministerin Anna Fotyga die Forderung ihres Landes nach einer Neuverhandlung über das Stimmengewicht innerhalb der Union. "Wir meinen, dass das in der Verfassung festgeschriebene System der Abstimmung für Polen unmöglich zu akzeptieren ist, da Polen das Land ist, das dabei am meisten verliert", betonte sie. Polen könne dem Prinzip der doppelten Mehrheit daher nicht zustimmen.
Auch Präsident Kaczynski bekräftigte im westpolnischen Gnesen (Gniezno), der polnische Standpunkt sei unverändert. "Ich sehe keinen Grund, warum Polen die größten Verluste ertragen sollte." Diese Position werde er an diesem Samstag auch im Gespräch mit Kanzlerin Merkel vertreten.
Polnische Quadratwurzel
Im Interesse Polens liege eine Lösung, die "nicht allzu weit" vom Vertrag von Nizza entfernt sei, sagte die polnische Chefdiplomatin Fotyga im Parlament. Damals war Polen im Europäischen Rat ein Anteil von 27 Stimmen zugestanden worden. Deutschland hatte trotz doppelt so großer Bevölkerungszahl 29 Stimmen erhalten. Polen schlägt vor, das Stimmengewicht im Europäischen Rat aus der Quadratwurzel der Bevölkerungszahl der einzelnen Mitgliedsländer zu berechnen. Polen hätte danach sechs Stimmen im Rat, Deutschland neun.
Quelle: ntv.de