"Klatsche für die Politik" Kinder-Hartz-IV unzulässig
27.01.2009, 15:35 UhrDer Hartz-IV-Regelsatz für Kinder ist nach Ansicht des Bundessozialgerichts verfassungswidrig. Die Kasseler Richter entschieden, die geltende Regelung verstoße in mehrfacher Weise gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes.
Die Bestimmung sieht vor, dass Kinder von Arbeitslosengeld-II-Empfängern bis zum Alter von 14 Jahren 60 Prozent der monatlichen Regelleistung von 351 Euro für ledige Erwachsene erhalten, also 211 Euro. Das Bundessozialgericht rief deshalb das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe an. Dieses muss nun über die Verfassungsmäßigkeit entscheiden. Die Kürzung der Hartz-IV-Gelder für Kinder auf 60 Prozent der Regelleistung verstößt laut Bundessozialgericht gegen das Grundgesetz. Die Kinder würden sowohl gegenüber ihren Eltern als auch gegenüber den Kindern von Sozialhilfeempfängern benachteiligt, entschieden die Richter in Kassel.
Die geltende Regelung verstoße in mehrfacher Weise gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes. Die Bestimmung sieht vor, dass Kinder von Arbeitslosengeld-II-Empfängern bis 14 Jahre lediglich 60 Prozent der monatlichen Regelleistung von 351 Euro für ledige Erwachsene erhalten, also 211 Euro. Nach Vollendung des 14. Lebensjahres werden 80 Prozent gezahlt.
Die Kasseler Richter riefen nun das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe an. Dieses muss über die Verfassungsmäßigkeit entscheiden.
Höhe des Sozialgeldes weiter offen
Anders als die Kläger, die wegen der reduzierten Auszahlung für Kinder das grundgesetzlich garantierte Existenzminimum nicht mehr für gewährleistet hielten, wollten Deutschlands oberste Sozialrichter die Höhe des Sozialgelds nicht grundsätzlich für unzureichend erklären. Diese Frage, ob das sogenannte Sozialgeld von früher 207 und derzeit 211 Euro für Kinder bis einschließlich 13 Jahren das Existenzminimum decke oder nicht, ließ das BSG ausdrücklich offen. In einer derart wichtigen Frage wie der Existenzsicherung hätte der Gesetzgeber allerdings den Bedarf von Kindern eigenständig ermitteln müssen und nicht pauschal von jenem alleinstehender Erwachsener ableiten dürfen. Das gebiete das Willkürverbot, die Menschenwürde, das Elternrecht und das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes, heißt es in dem Beschluss.
Bedarf eines Kindes eigenständig ermitteln
Nur eine detaillierte Festlegung des Bedarfs für Kinder "ermöglicht den Gerichten, eine begründete Entscheidung darüber zu treffen, inwieweit der Betrag noch im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers lag", sagte der Senatsvorsitzende, Peter Udsching. Anders als bei der Sozialhilfe sei zudem im Hartz-IV-Gesetz keine Anerkennung von zusätzlichem Bedarf vorgesehen, so dass Kinder von Sozialhilfeempfängern zu Unrecht besser gestellt würden.
Kein Altersunterschied
Weiterhin rügte der Senat, dass bei Hartz IV bislang kein Unterschied zwischen Säuglingen und Jugendlichen gemacht werde. An der Rechtmäßigkeit des Hartz-Satzes für Erwachsene in Höhe von 351 Euro bestehe jedoch kein Zweifel. Die Kritik an der 60-Prozent-Regel lasse nicht den Schluss zu, dass der Betrag "in jedem Fall als nicht ausreichend" anzusehen sei, um den Lebensunterhalt zu sichern. Demnach müsste sich der Satz nicht erhöhen, wenn Bundesregierung und Bundestag das derzeitige Sozialgeld rechnerisch untermauern. (Az.: B 14/11b AS 9/07 R und B 14 AS 5/08 R).
Zwei Familien klagten
Geklagt hatten Hartz-IV-Empfänger aus Dortmund und dem Kreis Lindau am Bodensee. Sie konnten sich dabei auf eine Entscheidung des hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt berufen, das die Hartz-IV-Leistungen für Kinder und Familien bereits im Oktober vergangenen Jahres für grundgesetzwidrig erklärt und das Thema dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt hatte.
Der Anwalt der Dortmunder Familie sah die 60 Prozent als "völlig willkürlich" und zudem nicht ausreichend zur Sicherung des Existenzminimums an. "Für Essen sind 1,02 Euro am Tag vorgesehen, ein Gläschen Babynahrung kostet aber schon 1,39 Euro. Für Windeln gibt es 8 Euro; das reicht eine Woche, aber nicht einen Monat. Und mit 20 Euro im Monat kann niemand ein Kind kleiden." Im zweiten Fall vertrat der DGB die bayerische Familie, bei der Vater und Mutter Arbeit haben und die in einer 148 Quadratmeter großen Wohnung leben. "Aber es reicht hinten und vorn nicht, weil die Beschränkung auf 60 Prozent einfach Unsinn ist", sagte der Anwalt.
"Klatsche für die Politik"
Der Präsident des deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, bezeichnete die Entscheidung des Bundessozialgerichts als "Klatsche für die Politik". Das Gericht habe deutlich gemacht, dass es vom Gesetzgeber völlig respektlos gegenüber den Bedürfnissen von Kindern sei, nur 60 Prozent vom Regelsatz eines Erwachsenen vorzusehen, sagte er der "Saarbrücker Zeitung". Er verwies darauf, dass Kinder einen deutlich höheren Bedarf an Kleidung hätten. Sein Verband mache sich schon seit Jahren für einen eigenen Kinderregelsatz stark. Der katholische Sozialverband Caritas erklärte, nach seinen Berechnungen bräuchten Kinder unter sechs Jahren 250 Euro, Kinder zwischen sechs und 13 Jahren 265 Euro und Jugendliche ab 14 Jahren 302 Euro.
Zum Juli dieses Jahres ist für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren eine Erhöhung auf 70 Prozent der Leistungen für Erwachsene vorgesehen. Zu diesem Gesetzesvorhaben im Zuge des Konjunkturpakets II äußerten sich die Kasseler Richter nicht. Klägeranwalt Martin Reucher kritisierte die Änderung aber als "willkürlich". "Das zeigt allenfalls das schlechte Gewissen des Gesetzgebers", sagte er.
Der Sprecher von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) sagte in Berlin, sein Ministerium werde den BSG-Beschluss ausführlich prüfen. Ein Teil der kritisierten Punkte sei bereits berücksichtigt worden, fügte er mit Blick auf die neue Regelung hinzu. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) verwies vor Journalisten ebenfalls auf die zusätzliche Stufe bei den Regelsätzen. Diese sei auf drei Jahre befristet, eine neue Entscheidung werde dann auf Grundlage der vorliegenden Daten getroffen.
Quelle: ntv.de