Politik

Verfassungsrichter a.D. über ESM-Entscheidung "Klar, dass die mehr Zeit brauchen"

Winfried Hassemer: "Es kann durchaus sein, dass das, was das Gericht jetzt macht, uns ökonomisch nicht weiterbringt."

Winfried Hassemer: "Es kann durchaus sein, dass das, was das Gericht jetzt macht, uns ökonomisch nicht weiterbringt."

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Der Druck, der auf den Verfassungsrichtern lastet, ist immens. Sie müssen über Klagen gegen die Euro-Rettungs-Gesetze entscheiden und verzögern so ihr Inkrafttreten. Als Vizepräsident a.D. kennt Winfried Hassemer solche Situationen. Im Gespräch mit n-tv.de zeigt er sich gelassen: Zeitdruck sei "nichts Neues" für die Karlsruher Richter.

n-tv.de: Politik und Gesellschaft üben auf mehreren Ebenen Druck auf das Bundesverfassungsgericht aus. Da ist zum einen die Tragweite der Entscheidung: Der Wohlstand Deutschlands oder gar der ganzen EU stehe auf dem Spiel, heißt es. Sehen Sie das auch so?

Seit 2008 tritt Winfried Hassemer nicht mehr in der roten Robe der Verfassungsrichter auf.

Seit 2008 tritt Winfried Hassemer nicht mehr in der roten Robe der Verfassungsrichter auf.

(Foto: picture alliance / dpa)

Winfried Hassemer: Ich kann gut verstehen, dass viele Leute das so sehen und sagen: "Was soll denn jetzt noch das Bundesverfassungsgericht? Es kommt doch darauf an, das brennende Haus zu retten.

Und wie schätzen Sie das ein?

Es kann durchaus sein, dass das, was das Gericht jetzt macht, uns ökonomisch nicht weiterbringt. Beim anstehenden Urteil über ESM und Fiskalpakt könnte es sein, dass es enger wird als bei bisherigen Entscheidungen zur Euro-Rettung. Aber darum geht es nicht. Ökonomischen Rat zu geben, ist nicht die Aufgabe des Gerichts. Aufgabe des Gerichts ist es, die Verfassung zu schützen.

Daraus ergibt sich die zweite Ebene, auf der Politik und Gesellschaft Druck auf das Gericht ausüben. Da heißt es: Wenn es die Euro-Rettung in Zeiten derart nervöser Märkte schon prüfen muss, sollte das doch bitte möglichst schnell geschehen. Warum nimmt sich das Gericht nun drei Monate statt wie erwartet ein paar Wochen Zeit für die Prüfung?

Mir war von Anfang an klar, dass die Prüfung nicht bis Ende Juli zu schaffen ist. Dafür ist die Sache zu komplex, weil es viele Mitspieler gibt, auch jenseits unserer Landesgrenzen. Außerdem geht es um die komplexe Frage, ob schon in diesem Verfahren der einstweiligen Anordnung Vorentscheidungen getroffen werden müssen, aus deren Bindungen wir später nicht mehr herauskommen.

Könnten Sie diesen Punkt ein wenig genauer beschreiben?

Noch geht es ja nicht darum, ob die Klagen inhaltlich begründet sind. Das Gericht berät derzeit, ob es eine einstweilige Anordnung erlässt, damit es sich den Rücken frei halten kann, um später in Ruhe die Entscheidung in der Hauptsache prüfen zu können. Aber hier besteht die Gefahr, dass in der Politik Entscheidungen getroffen werden, die nicht nur vorübergehend, nicht nur "einstweilig" sind. Und zwar deshalb, weil es um völkerrechtliche Verträge geht, an denen viele beteiligt sind. Der Bundespräsident könnte seine Unterschrift unter die Gesetze zu Fiskalpakt und ESM setzten und internationale Verpflichtungen bestätigen, an die die Bundesregierung gebunden ist, auch wenn das Bundesverfassungsgericht später feststellt, dass die Gesetze verfassungswidrig sind.

Für die Politik ist das offensichtlich kein ausreichendes Argument für die Verzögerung. Finanzminister Wolfgang Schäuble sagte, eine deutliche Verschiebung des ESM über den Juli hinaus "könnte eine erhebliche Verunsicherung der Märkte bedeuten".

Nicht nur der Finanzminister befindet sich unter erheblichen Druck. Er ist der Meinung, in dieser Zeit könnten Sachen passieren, die er als Finanzminister nicht verantworten möchte. Es entsteht ja immer wieder der Eindruck, dass Gerichte als die Bremser auftreten und die Exekutive als der Macher. Das lässt sich der Bevölkerung natürlich auch sehr plausibel vermitteln. Da sagt die Politik dann: "Wir handeln unter Druck, und die Gerichte fallen uns in den Arm und produzieren irgendetwas, das die Situation ökonomisch nicht verbessert." Was ja auch sein kann. Aber das Gericht muss sich die Zeit nehmen, die es für eine vernünftige Prüfung braucht, und wir müssen das ertragen. Wie gesagt: Es geht darum, dafür Sorge zu tragen, dass die Grenzen des Grundgesetzes eingehalten werden.

Gibt es nicht trotzdem irgendeine Möglichkeit, das Verfahren zu beschleunigen?

Zeitdruck ist nichts Neues. Bei der Entführung Hanns-Martin Schleyers durch die RAF zum Beispiel mussten die Verfassungsrichter über Nacht ihr Urteil finden. Im Bereich von Demonstrationen tagt die zuständige Kammer immer wieder auch an Sonntagen. Beim NPD-Verbotsverfahren konnte Hilfspersonal aufgestockt werden, um Zeit zu sparen. Auf dieser Ebene liegen die Möglichkeiten. Ob das bei der anstehenden Entscheidung hilft, kann ich nicht sagen.

Hier kommt die dritte Ebene ins Spiel, auf der Politik und Gesellschaft Druck ausüben. Der FDP-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff sprach dem Gericht die nötige fachliche Kompetenz ab, um die Materie der Euro-Rettung beurteilen zu können.

Das ist politische Rhetorik.

Ist die Frage nach der ökonomischen Expertise tatsächlich so abwegig? Ist nicht einer der Gründe, warum das Gericht nun drei Monate braucht, um über die einstweiligen Anordnungen zu entscheiden, dass es Einarbeitungszeit braucht?

Man muss bedenken: Die Expertise des Gerichts ist nicht die ökonomische Expertise, sondern es ist die verfassungsrechtliche Expertise. Ich will damit nicht sagen, dass beides nicht miteinander zusammenhängt. Aber die Richter mussten sich bei mehreren Entscheidungen in den vergangenen Jahren immer wieder fragen: Was bedeutet Europa für uns? Welche Zuständigkeiten können wir noch abgeben? Da hat der Senat eine Menge Expertise auch in der Sache gesammelt.

Fällt es einem Verfassungsrichter eigentlich schwer, bei all diesen Einflüssen von außen diese Unabhängigkeit zu wahren?

Es gibt ein zentrales Argument, das diese Unabhängigkeit pragmatisch verbürgt: Verfassungsrichter können bei uns nicht wiedergewählt werden. Was immer sie machen, das Ende ihrer Amtszeit steht fest. Außerdem sozialisiert der Senat. Er achtet streng auf tragfähige Argumente.

Mit Winfried Hassemer sprach Issio Ehrich

Quelle: ntv.de

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