Politik in der vierten Welle Kommt der Lockdown und wenn ja wie viele?
26.11.2021, 20:38 Uhr
In Berlin sind die Weihnachtsmärkte geöffnet, in Brandenburg mussten sie schließen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Bund und Länder sträuben sich noch, aber für RKI-Chef Wieler ist klar: Ohne Kontaktbeschränkungen wird es nicht gehen. Ein bundesweiter Lockdown ist nach geltender Rechtslage nicht möglich. Bleibt der Weg über die Länder.
"Die Zahl der Kontakte muss runter, deutlich runter", sagt der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der Bundespressekonferenz. "Wir müssen jetzt unsere Kontakte so weit es geht reduzieren", ergänzt der neben ihm sitzende RKI-Präsident Lothar Wieler. Ein Wort nehmen sie freiwillig nicht in den Mund: Lockdown.
Als ein Journalist fragt, ob es noch ohne geht, entgegnet Spahn, der eigentliche Punkt sei doch, was mit "Lockdown" gemeint sei. Das könnte heißen: Sind Restaurants mit drin, sollen die Schulen wieder flächendeckend geschlossen und Ausgangssperren verhängt werden? Das alles ist nicht mehr möglich, seit das von den Ampel-Parteien veränderte Infektionsschutzgesetz gestern in Kraft getreten und die epidemische Lage ausgelaufen ist. Zumindest mit Blick auf die Schulen war ja auch eigentlich Konsens, dass Kinder und Jugendliche nicht schon wieder als erste für die Versäumnisse von Staat und Gesellschaft haften sollen. "Es muss jetzt unser oberstes Ziel sein, Kitas und Schulen offen zu halten", forderte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Vormittag in einer Video-Ansprache zu einem Schulleiterkongress in Düsseldorf.
Egal, was man unter "Lockdown" versteht, einfach verhängen kann Spahn ihn ohnehin nicht, auch die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht. Stand jetzt ist ein Lockdown Sache der Länder, entsprechende regionale Beschränkungen gibt es längst. Aber auch der Bundestag könnte aktiv werden, so wie er es bei der Bundesnotbremse bereits gemacht hat. Sie organisierte - nachdem Merkel und die Länder mit dem "Oster-Lockdown" gescheitert waren - ein weitgehendes Zurückfahren des öffentlichen Lebens, inzidenzabhängig bis hin zu Ausgangssperren. Aber die Bundesnotbremse gilt nicht mehr, sie war bis Ende Juni befristet. Was er machen würde, wenn er könnte, will Spahn nicht verraten: "Ich finde, ich hab' gerade schon ziemlich deutlich gesagt, was ich erwarte." Auf die Nachfrage, ob er einen Lockdown meine, zeigt er ein unbewegtes Gesicht. Ein "Nein" sieht anders aus.
Wie sinnvoll wäre eine MPK?
Wenn harte Corona-Maßnahmen beschlossen wurden, lief es bisher in der Regel so: Erst wurde das Thema verschleppt, dann appellierten die ersten Ministerpräsidenten an den Bund, endlich etwas zu tun, die Bundeskanzlerin mahnte. Ein paar Tage später kamen Kanzlerin und Länderchefs zur Ministerpräsidentenkonferenz zusammen, wo man sich auf Kompromisse einigte. Diese Beschlüsse der MPK wurden aber nicht immer von allen Bundesländern umgesetzt.
Es gibt daher gute Gründe, Bund-Länder-Konferenzen für ein unzureichendes Mittel im Kampf gegen die Pandemie zu halten. Innerhalb des real existierenden Föderalismus haben sie andererseits einen entscheidenden Vorteil: Sie erleichtern den Ländern Entscheidungen, für die sie alleine nicht die nötige politische Kraft aufbringen. Diese zwei Seiten erklären, warum Ministerpräsidenten von Ländern mit dramatischen Infektionszahlen jetzt eine rasche MPK fordern - Regierungschefs von Ländern mit weniger hohen Inzidenzen hingegen nicht.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder etwa sagte heute bei einem Besuch im Hotspot-Landkreis Passau, Angela Merkel habe immer das Gespräch gesucht. Die Ampel dagegen verweigere Gespräche. "Ich kann da nur ein taktisches Kalkül vermuten." In Rosenheim hatte er zuvor eine "einheitliche Bundesnotbremse" gefordert, außerdem eine rasche MPK. Letzteres sieht Spahn ebenso. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher von der SPD dagegen erklärte bei ntv, er habe nichts gegen Ministerpräsidentenkonferenzen. "Aber es nützt ja nichts, dass dort immer wieder neue Diskussionen erfolgen und Beschlüsse gefasst werden, während auf der Handlungsebene nicht genug Druck in den großen Flächenländern im Süden gemacht wird, dass die Dinge auch auf die Straße kommen."
Fehlt was im Instrumentenkasten?
Neben Tschentscher kritisieren auch andere Vertreter der Ampel-Parteien, dass die Bundesländer noch nicht in vollem Umfang von den Möglichkeiten Gebrauch machen, die ihnen nach Veränderung des Infektionsschutzgesetzes zur Verfügung stehen. FDP-Generalsekretär Volker Wissing forderte die Länder im ntv-Frühstart auf, die Regelungen des Infektionsschutzgesetzes "sofort" umzusetzen: "Ich kann nur an alle appellieren, jetzt mit maximaler Möglichkeit Kontaktbeschränkungen auf den Weg zu bringen." Vom CDU-Politiker Spahn war ähnliches zu hören: "Die rechtlichen Grundlagen, die da sind, sind noch nicht vollständig ausgeschöpft."
Ausgeschöpft sind die Möglichkeiten in der Tat nicht. Bayern etwa hat durchaus gerade eine Reihe von deutlichen Verschärfungen beschlossen. Unter anderem wurden Weihnachtsmärkte untersagt, Clubs und Bars geschlossen. Der Freistaat nutzt dafür eine Übergangsregelung aus dem Infektionsschutzgesetz, die es bis zum 24. November ermöglichte, den alten Maßnahmenkatalog anzuwenden. Allerdings nutzt Bayern diesen alten Katalog nicht vollständig aus. So dürfen Restaurants bis 22 Uhr geöffnet bleiben. Mit der Übergangsregelung, die noch bis 15. Dezember gilt, hätten sie auch ganz geschlossen werden können.
Noch drastischer ist der Gegensatz zwischen Rhetorik und Praxis in NRW. "Wir brauchen in der Pandemie den vollen Instrumentenkasten", hatte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst am Mittwoch der vergangenen Woche in der ARD verkündet. Genutzt werden zwischen Rhein und Weser allerdings nicht einmal die vorhandenen Maßnahmen. So kritisierte Lehrerpräsident Heinz-Peter Meidinger, es sei völlig unverständlich, dass es in Nordrhein-Westfalen keine Maskenpflicht im Klassenzimmer gebe. Und in Köln findet ein Spiel der Fußball-Bundesliga am Samstag im vollen Stadion statt.
Wenn derzeit ein Lockdown gefordert wird, der über die aktuell möglichen Maßnahmen hinausgeht, dann ist damit also entweder gemeint, Schul- und Restaurantschließungen wieder ins Infektionsschutzgesetz aufzunehmen, eine bundesweite Regelung zu beschließen - oder aber eine MPK zu veranstalten, was den Bundesländern dabei helfen würde zu verschleiern, dass sie es sind, die für die Corona-Maßnahmen zuständig sind.
Gezielte Schulschließungen weiter möglich
Entsprechend kritisch sehen es jedenfalls die Ampel-Parteien. "Wir hatten ja gerade eine MPK, auf der sehr konkret beschlossen wurde, was in welchen Fällen getan werden muss", sagt Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen ntv.de. "Es fehlt also nicht an Instrumenten. Jetzt kommt es darauf an, dass das, was vereinbart wurde und wofür es eine gesetzliche Grundlage gibt, in die Tat umgesetzt wird."
SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese verweist auf das neue Infektionsschutzgesetz, mit dem sie den Ländern "konkrete Handlungsoptionen" gegeben hätten, "mit denen sie die Verbreitung von Covid-19 effektiv und rechtssicher verhindern können, ohne schwere Grundrechtseingriffe vornehmen zu müssen". Die Länder könnten Veranstaltungen absagen, Diskotheken oder andere Freizeiteinrichtungen schließen, wenn das hohe Infektionsgeschehen es erfordere, sie könnten auch "weitgehende 2G- oder 2G-plus-Regeln" anwenden, Schulen, Kitas oder Gastronomie gezielt schließen. Das passiert bereits: In Sachsen sind 193 Schulen teilweise und 110 komplett geschlossen, wie der sächsische Kultusminister Christian Piwarz am Donnerstag mitteilte. Zudem wurde die Präsenzpflicht angesichts steigender Infektionszahlen in Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt wieder ausgesetzt.
"Auch Kapazitäts- und Kontaktbeschränkungen sind möglich und ein effektives Mittel zur Kontaktreduzierung", so Wiese zu ntv.de. "Damit all diese Maßnahmen wirksam werden, müssen die Länder sie aber tatsächlich auch umsetzen." Wiese verweist auf Bayern: Söder rufe seit Wochen nach dem Bund, "dabei wurde bis vor kurzem selbst in extrem betroffenen Landkreisen in Bayern das mögliche Maßnahmenbündel nicht maximal ausgeschöpft".
Gerade Bayern könnte einen Hinweis darauf liefern, dass die Maßnahmen wirken. Wegen eines möglichen Meldeverzugs durch überlastete Labore und Gesundheitsämter sind die Zahlen mit Vorsicht zu genießen, aber: Das Land hat aktuell die meisten Infizierten und gehört zu den Spitzenreitern bei der Inzidenz, doch im Vergleich zur Vorwoche geht die Entwicklung nicht mehr so steil nach oben wie in Sachsen oder Thüringen, den anderen beiden Spitzenreitern.
Grüne gehen von Nachbesserungen aus
Und wenn das nicht reicht? Einen Lockdown ausschließen will nicht einmal mehr die FDP. "Nach dem, was wir erlebt haben in den letzten Monaten, ist es nicht klug, wenn man immer wieder Dinge ausschließt", sagt Volker Wissing. Stand jetzt findet die nächste MPK am 9. Dezember statt, unmittelbar nach der Wahl von Olaf Scholz zum Bundeskanzler. Es könnte gut sein, dass diese Bund-Länder-Runde dann der Ampel dazu verhilft, das Infektionsschutzgesetz so nachzubessern, dass die Übergangsregelung über den 15. Dezember hinaus verlängert wird, um Restaurantbesuche nicht nur beschränken, sondern komplett untersagen zu können. Vielleicht hilft die MPK auch den Ländern dabei, flächendeckend 2G plus in Deutschland zu verhängen, also einen Lockdown für Ungeimpfte.
Sicher ist, dass es nicht so bleiben kann, wie es ist - und dass die zehn Tage, die die Ampel-Parteien noch abwarten wollen, um zu sehen, ob die bisherigen Maßnahmen wirken, zu lang sein werden. Grünen-Gesundheitsexperte Dahmen sagt, er sei "ausgesprochen besorgt" angesichts der dramatischen Entwicklung. "Ich verstehe nicht, warum die Länder nicht längst flächendeckend 2G plus eingeführt haben. Es sorgt mich sehr, dass die Booster-Impfungen noch nicht das notwendige Tempo aufgenommen haben." Er sagt aber auch, er gehe davon aus, "dass im Rahmen weiterer Nachbesserungen an der geltenden Gesetzeslage sichergestellt sein muss, dass auch über den 15. Dezember hinaus wirkungsvolle regionale Maßnahmen, in den besonders schwer betroffenen Ländern auch der landesweite Lockdown, zur wirkungsvollen Kontaktbeschränkung möglich sind". Ob der Lockdown kommt, ist also nicht nur eine Frage der Zeit, sondern auch der Zahl - es könnte nicht einen, sondern mehrere Lockdowns geben, in einigen Bundesländern.
In seinem Unverständnis scheint Dahmen einig zu sein mit Spahn. "Wir haben jetzt eine Woche hoch und runter die Impfpflicht diskutiert", sagt der in seiner Pressekonferenz und ist sichtlich genervt. "Aber das ist nicht das Thema dieser Tage. Das Thema dieser Tage ist, wie wir die vierte Welle brechen."
Quelle: ntv.de