Der Kriegstag im Überblick Kreml treibt Referenden voran - Lukaschenko erwägt "Alarmzustand"
20.09.2022, 21:42 Uhr
Dieses von der russischen Staatsagentur Tass zur Verfügung gestellte Foto zeigt ein brennendes Auto in Luhansk.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Gleich vier von Russen besetzte Regionen der Ukraine wollen Ende September Referenden inszenieren - und aus Moskau kommen Signale der Zustimmung. Für die Ukraine ist diese Taktik ein Zeichen der Angst Moskaus vor dem weiteren militärischen Erfolg des Gegners. In Russland laufen derweil Vorbereitungen der Duma, die auf eine Verhängung des Kriegszustands hindeuten. Auch der belarussische Machthaber Lukaschenko arbeitet offenbar an einer Mobilmachung. Der 209. Kriegstag im Überblick:
Russland bereitet Annexion mehrerer Gebiete vor
Die von Russland anerkannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine wollen noch in dieser Woche in einem umstrittenen Verfahren über einen Beitritt zur Russischen Föderation abstimmen lassen. Das teilten die Regionen mit. Zeitgleich wollen auch die Gebiete Cherson und Saporischschja im Süden über einen Beitritt zu Russland abstimmen lassen. Die Scheinreferenden, die weder von der Ukraine noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden, sollen demnach vom 23. bis 27. September abgehalten werden.
Die zeitgleichen Scheinreferenden gelten als Reaktion auf die aktuelle ukrainische Gegenoffensive im Osten des Landes. Auf ähnliche Weise annektierte Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim. International wurde die Abstimmung nicht anerkannt. Auch diesmal ist eine Anerkennung nicht in Sicht. Zuvor hatte der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew Beitrittsreferenden in den von Moskau besetzten Gebieten in der Ukraine gefordert, um diese unwiderruflich an Russland anzugliedern. "Nach ihrer Durchführung und der Aufnahme der neuen Territorien in den Bestand Russlands nimmt die geopolitische Transformation in der Welt unumkehrbaren Charakter an", schrieb er auf seinem Telegram-Kanal.
Kiew droht mit gewaltsamer Reaktion
Die Ukraine hat selbstbewusst auf die Ankündigungen Russlands reagiert. "Weder die Pseudoreferenden noch die hybride Mobilmachung werden etwas ändern", schrieb Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter. Die Ukraine werde weiter ihr Gebiet befreien, egal, was in Russland gesagt werde. Zudem drohte die Ukraine eine gewaltsame Reaktion an. "Die Ukraine wird die russische Frage klären. Die Bedrohung kann nur mit Gewalt abgewendet werden", erklärte der Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Jermak, auf dem Messengerdienst Telegram.
Jermak sprach von "naiver Erpressung" und "Angstmacherei". "So sieht die Furcht vor einer Zerschlagung (der russischen Truppen) aus. Der Feind hat Angst und manipuliert auf primitive Art", schrieb der 50-Jährige im Nachrichtenkanal Telegram. Die Ankündigung der Referenden sei eine "Erpressung" durch Moskau, das angesichts der ukrainischen Geländegewinne von der "Angst vor einer Niederlage" getrieben sei.
Scharfe Kritik an Moskaus Plänen
International sind die Pläne für eine Annexion durch Russland auf Kritik gestoßen. Es sei "ganz klar, dass diese Scheinreferenden nicht akzeptiert werden können", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz am Rande der UN-Generaldebatte in New York. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von einer "weiteren Eskalation" des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.
Das Weiße Haus betonte, die USA würden eine Annexion der ukrainischen Gebiete durch Moskau "niemals" anerkennen. Die geplanten Abstimmungen seien "nicht gedeckt vom Völkerrecht und von den Verständigungen, die die Weltgemeinschaft gefunden hat", sagte Scholz. Es handele sich um den "Versuch einer imperialistischen Aggression", die durch die Abstimmungen "verbrämt werden" solle. "Russland muss seine Truppen zurückziehen", betonte der Bundeskanzler.
Russisches Parlament verschärft Strafgesetz
Das russische Parlament hat in Eilverfahren Gesetzesänderungen vorgenommen, die auf eine mögliche Vorbereitung für die Verhängung des Kriegsrechts in dem Land hindeuten könnten. So legte die Duma etwa fest, dass Zeiten der "Mobilmachung" und des "Kriegszustandes" besonders anfällig seien für Verbrechen. Verschärft wurde unter anderem in zweiter und in letzter Lesung das Strafrecht, wonach etwa die Haftstrafen für das freiwillige Eintreten in Kriegsgefangenschaft und für Plünderungen deutlich erhöht werden.
Unabhängige und kremlnahe Beobachter sahen darin eine mögliche Vorbereitung des Kreml auf die Verhängung des Kriegszustandes und eine Mobilmachung. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte angesichts des Krieges in der Ukraine gesagt, dass Moskau dort noch nicht einmal richtig angefangen habe. Die Staatsduma verabschiedete ebenfalls ein Gesetz, wonach Ausländer, die sich zum Militärdienst verpflichten, schneller russische Staatsbürger werden können.
Lukaschenko bereitet Belarus auf mögliches Kriegsrecht vor
Auch der Machthaber von Belarus, Alexander Lukaschenko, hat vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine eine Mobilmachung aller Sicherheitsorgane und eine weitere Verschärfung der Gesetze angeordnet. "Wenn wir eine Militäreinheit nach den Kriegsgesetzen in Alarmzustand versetzen müssen, dann müssen wir das tun", sagte Lukaschenko der staatlichen Minsker Nachrichtenagentur Belta zufolge bei einem Treffen mit dem Sekretär des nationalen Sicherheitsrats Alexander Wolfowitsch. Der 68-Jährige drohte zugleich der Opposition und forderte eine "Disziplinierung der Gesellschaft".
Russland verlegt wohl U-Boote der Schwarzmeerflotte
Russlands Schwarzmeerflotte hat nach britischen Erkenntnissen einige ihrer U-Boote von Sewastopol auf der Halbinsel Krim in den mehrere Hundert Kilometer entfernten Hafen von Noworossijsk in Südrussland verlegt. Der Hauptgrund dafür sei wahrscheinlich eine Veränderung des Bedrohungsniveaus, erklärte das Verteidigungsministerium in London in seinem täglichen Lagebericht. Es verwies darauf, dass in den vergangenen zwei Monaten sowohl das Hauptquartier als auch der wichtigste Flugplatz der Schwarzmeerflotte auf der Krim angegriffen worden seien.
Erdogan fordert Rückgabe besetzter Gebiet an Ukraine
"Wenn in der Ukraine ein Frieden hergestellt werden soll, wird natürlich die Rückgabe des besetzten Landes wirklich wichtig. Das wird erwartet", sagte Erdogan in einem vom US-Sender PBS veröffentlichten Interview. Genauso müsse die von Russland annektierte Halbinsel Krim an die Ukraine zurückgegeben werden. Russland hat nach seinem Einmarsch in der Ukraine am 24. Februar große Gebiete im Süden und Osten des Landes erobert. Ankara hat bereits in der Vergangenheit die Annexion der Krim 2014 verurteilt und auf die Achtung der Souveränität der Ukraine gepocht. Zuletzt hatte Erdogan andererseits dem Westen "Provokation" im Ukraine-Krieg vorgeworfen.
Ukraine kann mit weiteren Milliarden aus Brüssel rechnen
Die Ukraine kann in Kürze mit der Auszahlung von weiteren EU-Finanzhilfen in Höhe von fünf Milliarden Euro rechnen. Die EU-Staaten nahmen die Milliardenhilfe formell an, wie die tschechische Ratspräsidentschaft mitteilte. Damit nahm das Finanzpaket seine letzte Hürde und dürfte somit bald ausgezahlt werden. Das Darlehen solle dafür sorgen, dass der ukrainische Staat und wichtige Infrastruktur trotz des russischen Kriegs gegen das Land weiter funktionieren können. Das Geld ist Teil eines im Mai angekündigten Hilfspakets über insgesamt neun Milliarden Euro.
Ringtausch von militärischem Gerät mit deutscher Beteiligung
Slowenien und Deutschland sind sich nach slowenischen Angaben über einen Ringtausch als Militärhilfe für die Ukraine einig. Demnach gibt Slowenien 28 alte Kampfpanzer M-55S an das von Russland angegriffene Land ab. Das teilte der slowenische Ministerpräsident Robert Golob in Ljubljana nach einem Telefonat mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit. Aus Deutschland bekomme es dafür 35 schwere Militärlastwagen und 5 Tankwagen, hieß es am Montagabend. In Berlin stand eine offizielle Bestätigung noch aus. Die Bundesregierung hat einen Teil der Militärhilfe für die Ukraine als Tausch mit östlichen NATO-Partnern organisiert. Diese geben Waffen sowjetischer Bauart an die Ukraine ab und erhalten dafür moderneren Ersatz aus Deutschland.
Gemeinsame Raumfahrtmission von Russland und USA
Die Raumfahrtnationen Russland und USA fliegen an diesem Mittwoch in Zeiten schwerster Spannungen erstmals wieder zusammen zur Internationalen Raumstation ISS. An Bord einer Sojus-Rakete sollen die beiden Kosmonauten Sergej Prokopjew und Dmitri Petelin sowie der NASA-Astronaut Frank Rubio um 15.54 Uhr MESZ vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur in der Steppe der Republik Kasachstan in Zentralasien starten. Es ist der erste gemeinsame Flug seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die Invasion belastet die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Moskau und Washington zusätzlich.
Gouverneur: Bisher 146 Leichen nahe Isjum exhumiert
Aus den Gräbern nahe der ukrainischen Stadt Isjum sind der örtlichen Regierung zufolge bisher 146 Leichen exhumiert worden. "Einige der Toten weisen Anzeichen eines gewaltsamen Todes auf. Es gibt Leichen mit gefesselten Händen und Spuren von Folter", schreibt der Gouverneur der Region Charkiw, Oleg Sinegubow, auf Telegram. Zudem habe man die Leichen von zwei Kindern gefunden. Anwohnern zufolge kamen manche der begrabenen Menschen bei einem russischen Luftangriff ums Leben. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge wurden am Stadtrand von Isjum vermutlich insgesamt 450 Leichen begraben. Der Kreml weist die Anschuldigungen der Ukraine zurück.
Weitere Texte zum Ukraine-Krieg:
- Mit den Referenden will Russland dem Westen Angst machen
- Warum Putin den Donbass erobern will
- Mehrheit lehnt Kampfpanzer für Ukraine ab
- Frau erkennt toten Ehemann anhand seiner Armbänder
Alle weiteren Entwicklungen können Sie in unserem Liveticker nachlesen.
Quelle: ntv.de, lve/AFP/dpa