Politik

DDR-Schießbefehl Krenz weiß von nichts

Das Auftauchen eines Dokuments zum Schießbefehl der DDR-Grenztruppen hat die Debatte über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit neu angefacht. Die Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde, Marianne Birthler, wertete den Fund als Beleg, dass dieser Teil der Geschichte noch lange nicht aufgearbeitet sei. Allerdings räumte ihre Behörde ein, dass Teile des Textes bereits vor zehn Jahren veröffentlich wurden. Ein Sprecher wies aber den Vorwurf zurück, das Dokument sei lanciert worden, um Forderungen nach Auflösung der Behörde entgegen zu treten.

Das am Wochenende von der "Magdeburger Volksstimme" veröffentlichte Dokument enthält nach Angaben der Birthler-Behörde einen Befehl an eine Sondereinheit der Staatssicherheit, die die Zuverlässigkeit der DDR-Grenztruppen überwachte. Ihre Mitglieder wurden in Armee-Einheiten eingeschleust, wenn es Hinweise auf angebliche Fluchtpläne von Grenzsoldaten gab. Den Mitgliedern einer Spezialeinheit wurde befohlen, ohne Zögern auf Flüchtlinge zu schießen, auch wenn Frauen und Kinder darunter seien. Bisher waren nach Angaben der Behörde Dokumente bekannt, wonach Schüsse das letzte Mittel gegen Flüchtlinge seien.

Krenz widerspricht

Trotz des eindeutigen Papiers hat der frühere DDR-Staatschef und SED-Generalsekretär Egon Krenz abgestritten, dass es an der ehemaligen innerdeutschen Grenze einen Schießbefehl gegeben habe. In der "Bild"-Zeitung stellte Krenz das neu entdeckte Stasi-Dokument der Birthler-Behörde in Frage, das ausdrücklich eine Dienstanweisung zum Einsatz der Schusswaffe gegen Flüchtende enthält: "Es hat einen Tötungsbefehl, oder wie Sie es nennen - Schießbefehl -, nicht gegeben", sagte er. "Das weiß ich nicht aus Akten, das weiß ich aus eigenem Erleben. So ein Befehl hätte den Gesetzen der DDR auch widersprochen."

"Lizenz zum Töten"

Der Direktor der Stasiopfer-Gedenkstätte-Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, forderte die Staatsanwaltschaft Magdeburg auf, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu prüfen. Der Befehl sei eine Lizenz zum Töten, sagte er der dpa. Der Auftrag, ohne zu zögern auch auf Frauen und Kinder zu schießen, könne als Anstiftung zum Mord oder Totschlag gewertet werden, eventuell sogar als unmittelbare Tatbeteiligung.

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte der Zeitung "B.Z. am Sonntag", "der Fund des Schießbefehls demonstriert in erschreckender Weise wie menschenverachtend dieses System war". Am Vorabend des 46. Jahrestages des Mauerbaus am 13. August 1961 sei es ein Denkzettel für all diejenigen, die die Grausamkeit des SED-Regimes gerne in den Geschichtsschubladen verschwinden lassen möchten.

Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) wertete das Dokument im MDR ebenfalls als Beleg dafür, "dass die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen" sei. Es fänden sich immer neue Erkenntnisse. "Zum zweiten macht es deutlich, wie verbrecherisch die Stasi letztlich gearbeitet hat, dass es also wirklich darum ging, Menschen zu vernichten, Menschen unter Druck zu setzen. Und dieser Befehl macht deutlich, dass auch keine Gruppe ausgenommen war. Selbst Kinder und Frauen waren inbegriffen."

"An die Einsatzkompanie"

Die Quelle des Schießbefehls ist aus Expertensicht nur schwer zu ermitteln. "Bei dem Dokument handelt es sich um ein äußerst banales Schriftstück ohne die typischen Briefköpfe, die uns sonst zumindest die Stasi-Abteilung in Berlin verraten haben", sagte der Leiter der Magdeburger Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde, Jörg Stoye. Das Dokument sei nur mit den Worten "An die Einsatzkompanie" überschrieben. Daher sei aus dem Papier keinerlei Hierarchie erkennbar.

Zudem habe die Stasi auch zahlreiche Dokumente vernichten können. Das schlicht gehaltene Dokument zeige, wie alltäglich mit solchen Anweisungen in der DDR umgegangen wurde, sagte Stoye. So reihe sich dieser Schießbefehl in eine lange Reihe von Anweisungen ein, die das Ziel verfolgten, das Weglaufen der DDR-Bevölkerung mit allen Mitteln zu verhindern. Ob sich daher bestimmte Grenztote direkt auf diesen Befehl zurückführen lassen, sei unklar, zumal auch die genauen Einsatzorte der benannten Spezialeinheit in solchen Dokumenten nicht festgehalten wurden. "Es sind an der Regimegrenze auch Frauen und Kinder durch 'normale' Befehle gestorben." Die Recherche solcher Zusammenhänge sei daher auch Auftrag freier Historiker und von Forschungsinstituten.

Leugner widerlegt

Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Birthler betonte die Bedeutung des Dokuments für die weitere Forschung. "Das Dokument ist deswegen so wichtig, weil der Schießbefehl von den damals politisch Verantwortlichen nach wie vor bestritten wird", sagte sie der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".

Birthlers Sprecher Andreas Schulze bestätigte einen Bericht der Zeitung "Die Welt", wonach der Wortlaut des Befehls bereits in einem Sammelband vor zehn Jahren in Teilen veröffentlicht wurde. Das darin gezeigte Dokument stamme aber aus dem Jahr 1974, das nun veröffentlichte sei ein Jahr älter. Der Befehl sei an jedes Mitglied der Sondereinheit ergangen, der ihn unterschreiben musste. Daher gebe es wahrscheinlich eine Reihe von Dokumenten desselben Inhalts.

"Dieses (1997 veröffentlichte) Dokument war uns gestern nicht präsent, aber offenbar den allermeisten Experten und Medien auch nicht bekannt." Es sei zwar nicht unwichtig, dass es schon veröffentlicht war. "Aber das nimmt dem neuen Dokument nichts von seinem inhaltlichen Gehalt und seiner Aussagekraft."

Zweifel an Motiven der Birthler-Behörde

Kritiker zweifelten jedoch die Motive der Behörde an. Der CDU-Politiker Arnold Vaatz sprach von Sensationshascherei. "Sie ist offenbar daran interessiert, positiv in die Schlagzeilen zu kommen", sagte er der "Welt". Dies sei nicht akzeptabel. Der Birthler-Sprecher wandte sich gegen den Vorwurf, die Behörde wolle mit der Veröffentlichung die Diskussion über ihre Dienststelle beeinflussen. Unter anderen hatten der zuständige Kulturstaatsminister im Kanzleramt, Bernd Neumann, und Linken-Chef Oskar Lafontaine deren Auflösung gefordert. Neumann will die Behörde ins Bundesarchiv eingliedern. Birthler wehrte sich gegen die Pläne. "Wir sind noch lange nicht am Ende der Aufarbeitung", sagte sie mit Blick auf das Dokument.

Die Bundesregierung bekannte sich vor dem Hintergrund des Streits zur weiteren Aufarbeitung der DDR-Geschichte. "Die Aufarbeitung der SED-Diktatur ist nicht abgeschlossen und wird von der Bundesregierung weiter mit Nachdruck gefördert", erklärte ihr stellvertretender Sprecher Thomas Steg.

Quelle: ntv.de

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