"Hochexplosive Mischung" Kurden-Konflikt weitet sich aus
30.10.2007, 18:50 UhrNach den schweren Zusammenstößen zwischen nationalistischen Türken und Kurden in Berlin rechnen Experten mit weiteren Ausschreitungen in Deutschland. "Wir haben hier eine hochexplosive Mischung", sagte der Islam-Experte Michael Pohly. Seit dem drohenden Einmarsch der türkischen Armee im Nordirak habe das Konflikt-Potenzial in Deutschland zugenommen. Auch der SPD-Innenpolitiker Sebastian Edathy befürchtet eine Ausweitung des Konfliktes auf die Bundesrepublik. Unterdessen griff die türkische Armee erneut Stellungen der kurdischen PKK an der Grenze zum Irak an.
"Man kann nicht ausschließen, dass sich der Konflikt auf Deutschland überträgt", sagte Edathy dem "Kölner Stadt-Anzeiger". Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses rief die Sicherheitsbehörden auf, das Verbot der PKK in Deutschland durchzusetzen.
Pohly erklärte, die in Deutschland lebenden Kurden würden von der PKK massiv aufgestachelt und unter Druck gesetzt. Den PKK-Sympathisanten stehe gerade in Berlin eine große Gruppe nationalistischer Türken gegenüber. "Die Türken werden von Staatsseite ja geradezu dazu ermutigt, ihr Türkentum zu betonen", sagte der Dozent am Institut für Iranistik der Freien Universität Berlin. Durch die Tötung türkischer Soldaten sei die Situation weiter aufgeheizt worden.
Auch die Leiterin des Berliner Verfassungsschutzes, Claudia Schmid, rechnet mit weiteren Gewaltausbrüchen. "Der Konflikt im Grenzgebiet zum Irak ist bereits auf Berlin übergeschwappt", sagte Schmid im Inforadio des RBB. Nach Angaben des Verfassungsschutzes hat die rechtsextreme türkische Szene in Berlin 300 organisierte Anhänger, bundesweit sollen es 7.500 sein. Im vergangenen Jahr hatte es in der Hauptstadt eine Reihe von Anschlägen gegen türkische Einrichtungen gegeben, für die wiederum die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen verantwortlich sein sollen. Ihnen werden in Berlin 1.000 und bundesweit 11.500 Anhänger zugerechnet.
Die Spannungen im Grenzgebiet zwischen der Türkei und dem Irak hatten am Sonntag die deutsche Hauptstadt erreicht. Nach einer friedlichen Anti-PKK-Demonstration kam es am Abend zu Krawallen zwischen jugendlichen Türken und Kurden. Nach Polizeiangaben richteten sich die Ausschreitungen gegen ein kurdisches Kulturzentrum und ein kurdisches Lokal, es flogen jedoch auch Steine und Flaschen auf Polizisten. 18 Beamte wurden verletzt und 15 Randalierer festgenommen.
Koordinierungsrat der Muslime ruft zur Ruhe auf
Der Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland rief nach den Ausschreitungen zur Ruhe auf. Millionen von Kurden und Türken lebten in Deutschland friedlich zusammen, sagte der Sprecher Bekir Alboga im Deutschlandradio Kultur. Nur eine Minderheit habe sich an den gewalttätigen Demonstrationen beteiligt. "Wir haben überhaupt kein Interesse daran, dass Konflikte auf der ganzen Welt in Deutschland fortgesetzt werden", sagte Alboga. Der Berliner Innensenator Ehrhart Körting hatte zuvor alle Beteiligten vor einer weiteren Eskalation gewarnt. Randalierer müssten auch mit Ausweisung rechnen, sagte der SPD-Politiker dem "Tagesspiegel".
Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Hans-Peter Uhl, forderte die Ausweisung türkischer und kurdischer Gewalttäter. Bei den Zusammenstößen am Sonntag handele es sich um schweren Landfriedensbruch, sagte der CSU-Politiker der "Mitteldeutschen Zeitung". Das sei ein zwingender Ausweisungsgrund.
Angriffe auf Rebellen fortgesetzt
Die türkischen Streitkräfte setzten indes ihre Angriffe auf vermutete Stellungen der kurdischen PKK fort. Kampfhubschrauber vom Typ "Cobra" flogen Augenzeugen zufolge weitere Einsätze gegen die Rebellen. Über den Hügeln in der Provinz Sirnak sei nach dem Überflug der Helikopter Rauch aufgestiegen. Bodentruppen hätten das Gebiet nach Minen abgesucht. Im Grenzgebiet zum Irak und in der 100 Kilometer nördlich gelegenen Provinz Tunceli kamen seit Montag vier türkische Soldaten ums Leben.
Die Türkei hat an der Grenze zum Irak 100.000 Soldaten zusammengezogen, die sich auf einen Einmarsch in die autonomen Kurdengebiete des Nachbarlandes vorbereiten. Ministerpräsident Tayyip Erdogan bekräftigte, dass seine Regierung notfalls auch gegen den Willen der USA eine Großoffensive gegen 3.000 PKK-Kämpfer im Nachbarland starten werde. "Wir stehen vor der Entscheidung, und wir werden sie alleine treffen", sagte Erdogan vor der Parlamentsfraktion seiner regierenden AKP. Sein Land müsse sich mit militärischen Mitteln gegen den Terrorismus zur Wehr setzen.
Die USA und der Irak haben die Türkei vor einer Großoffensive gewarnt. Sie fürchten um die Stabilität in der Region. Der irakische Kurdenführer Masud Barsani forderte die PKK in der türkischen Zeitung "Milliyet" auf, die Waffen niederzulegen. Zugleich kritisierte er die Türkei dafür, dass sie nicht mit seiner Autonomiebehörde rede. Die Führung in Ankara setzt auf Gespräche mit der irakischen Zentralregierung und verdächtigt Barsani, die Ausrufung eines Kurdenstaates zu planen, was den Separatismus in den großen Kurdengebieten in der Türkei beflügeln würde.
Quelle: ntv.de