Polizei meldet 42 Festnahmen Massenprotest gegen Justizreform legt Israel zeitweise lahm
11.07.2023, 16:21 Uhr Artikel anhörenDie Debatte läuft seit Langem, nun wird es im Parlament ernst: Die umstrittene Justizreform wird dort erstmals diskutiert. Wenige Stunden später sind Zehntausende auf den Straßen. Der Protest legt große Teile des Landes lahm. Die Polizei geht teils brutal gegen die Demonstranten vor.
Israels rechts-religiöse Regierung treibt ihre umstrittenen Pläne zum Umbau der Justiz weiter voran und heizt damit die Proteste im Land massiv an. In der Nacht zum Dienstag billigte das Parlament nach stundenlangen Debatten einen Gesetzentwurf der Justizreform in der ersten von drei Lesungen.
Um das Gesetz zu verabschieden, ist noch eine zweite und eine dritte Lesung erforderlich. Am Nachmittag soll der Gesetzentwurf im Justizausschuss des Parlaments weiter debattiert werden, bevor er zurück ins Plenum geht. Oppositionsführer Jair Lapid übte während der Debatte in der Nacht scharfe Kritik und sprach von "dieser verdammten Regierung". Er gelobte, dass es das Gesetzesvorhaben nicht durch die zweite und dritte Lesung schaffen werde. Wenige Stunden nach der Entscheidung strömten Zehntausende wütende Israelis zu einem "Tag der Störung" auf die Straßen. Ihr Ziel: Das Land lahmlegen.
Mit Fackeln, Flaggen und Protestschildern zogen sie lautstark durch Städte wie Tel Aviv, Jerusalem und Haifa. Demonstranten versuchten, den Zugang zum Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv zu sperren, wie die Polizei mitteilte. Protestteilnehmer brachten auch den Verkehr auf einer Schnellstraße nahe der Stadt Modiin zwischen Jerusalem und Tel Aviv zum Stillstand. Weitere zentrale Straßen blieben stundenlang blockiert.
Die Polizei setzte landesweit Wasserwerfer und Beamte auf Pferden ein, um die Mengen auseinanderzutreiben. Dutzende Menschen wurden teils gewaltsam festgenommen, wie auf Videos und Bildern der Proteste zu sehen war. Insgesamt seien es nach Polizeiangaben landesweit 42 Festnahmen gewesen. Vereinzelt kam es zu heftigen Konfrontationen.
"Ich bin hierhergekommen, weil diese Regierung die Demokratie in Israel völlig zerstört", sagte der Arzt Eitan Galon, der auf einer Straße außerhalb Jerusalems protestierte. "Wir werden bis zum Ende kämpfen", fuhr er fort. Für den Abend war auch eine Demonstration vor der US-Botschaft in Tel Aviv geplant. Die USA sind der wichtigste Verbündete Israels. US-Präsident Joe Biden hatte am Sonntag in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CNN erklärt, er hoffe, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu werde sich "weiter in Richtung Mäßigung und Wandel" bewegen.
Vorhaben spaltet die Gesellschaft
Die Pläne der rechts-religiösen Regierung von Netanjahu zur Schwächung der unabhängigen Justiz spalten seit nun mehr als einem halben Jahr große Teile der israelischen Gesellschaft. Die Koalition wirft den Richtern zu viel Einfluss bei politischen Entscheidungen vor. Kritiker sehen die Gewaltenteilung in Gefahr und warnen, dass sich Israel in eine Diktatur verwandeln könnte.
Der jüngste Gesetzentwurf ist nur ein Teil des umfassenden Vorhabens. Er sieht ein Ende der sogenannten Angemessenheitsklausel vor. Damit kann das Höchste Gericht Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister künftig nicht mehr als "unangemessen" bewerten. In der Vergangenheit hatte das Gericht von der Klausel regelmäßig Gebrauch gemacht.
Anfang des Jahres etwa hatte es die Ernennung des Vorsitzenden der Schas-Partei, Arie Deri, zum Innenminister wegen dessen krimineller Vergangenheit als "unangemessen" eingestuft. Daraufhin musste Netanjahu seinen Vertrauten entlassen. Beobachter befürchten, dass ein Ende der Klausel Korruption und damit auch die willkürliche Besetzung hochrangiger Posten begünstigen könnte.
Sorge vor härterem Vorgehen der Polizei
Die Proteste am heutigen Dienstag wurden überschattet von der Sorge vor einem härteren Vorgehen durch die Polizei gegen die Demonstrierenden. Mehrere Minister hatten dies mehrfach gefordert. Bildungsminister Joav Kisch sprach von "Terrorismus, dem man sich nicht beugen darf". Vergangene Woche war der Polizeichef von Tel Aviv zurückgetreten, weil er sich weigerte, härter durchzugreifen. "Ich bezahle den Preis dafür, einen Bürgerkrieg vermeiden zu wollen", sagte er danach. Medienberichten zufolge deutet sich seither eine Tendenz zu mehr Festnahmen und Verletzten an.
Israels Präsident Izchak Herzog rief indes alle Parteien zur Deeskalation und zum Dialog auf. "Wir befinden uns am Höhepunkt einer tiefen, besorgniserregenden Krise." Familien würden auseinandergerissen, Nachbarn und Freunde zu Rivalen und Feinden. Der Vorsitzende des Dachverbands der Gewerkschaften (Histadrut) forderte von Netanjahu, das "wahnsinnige Chaos" zu beenden. "Wenn die Situation ein Extrem erreicht und alle anderen Wege ausgeschöpft sind, werden wir eingreifen und unsere Macht nutzen", drohte Arnon Bar-David in Tel Aviv.
Die Histadrut mit rund 800.000 Mitgliedern hatte Ende März wegen einer kurzzeitlichen Entlassung von Verteidigungsminister Joav Galant durch Netanjahu zu einem Generalstreik aufgerufen. Galant hatte zuvor das Vorgehen beim Umbau der Justiz öffentlich kritisiert. Netanjahu setzte damals das Vorhaben aus, Galants Entlassung wurde später rückgängig gemacht.
Kein Ende in Sicht
Monatelange Gespräche über einen Kompromiss unter Vermittlung von Herzog zwischen Regierung und Opposition blieben anschließend jedoch erfolglos. Sie wurden nach einem Streit mit der Koalition von der Opposition vor rund drei Wochen beendet. Die Oppositionsführer Jair Lapid und Benny Gantz zeigten sich zuletzt zwar wieder gesprächsbereit. Die Voraussetzung: Ein erneuter Stopp der Reform. Medienberichten zufolge erteilte Netanjahu dem jedoch eine Absage.
Netanjahus Koalition ist die am weitesten rechts stehende, die das Land je hatte. Die Gesetzesänderungen erfolgen auch auf Druck von Netanjahus strengreligiösen Koalitionspartnern. Sie könnten Netanjahu laut Experten jedoch auch in einem schon länger gegen ihn laufenden Korruptionsprozess in die Hände spielen. Ein Kernstück der Reform - eine Änderung bei der Richterbesetzung - will die Regierung Medienberichten zufolge bereits in der nächsten Sitzungsperiode im Herbst auf die Agenda setzen. Der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben-Gvir schrieb nach der Abstimmung dazu auf Twitter: "Wir haben begonnen".
Quelle: ntv.de, als/dpa/AFP