Opposition fordert Abschaltgesetz Merkel: Augenmaß statt Bundestag
16.03.2011, 16:48 Uhr
Schweigeminute im Bundestag. Beim Moratorium soll das Parlament nicht eingeschaltet werden.
(Foto: dapd)
SPD, Grüne und einzelne Unionspolitiker glauben nicht, dass das von Kanzlerin Merkel verkündete Moratorium rechtssicher ist. SPD-Chef Gabriel befürchtet gar einen Deal mit der Atomindustrie. Die Opposition fordert ein Abschaltgesetz. Merkel will das Parlament jedoch heraushalten.
Nach Kritik aus den eigenen Reihen und von der Opposition hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bekräftigt, dass das beschlossene Moratorium für die sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke auch ohne Parlamentsbeschluss rechtmäßig sei.
Eine Befassung des Bundestages sei nicht notwendig, weil dafür das bestehende Atomgesetz "im Vollzug der Länder umgesetzt wird", sagte Merkel in einem RTL-Interview. "Wir haben ein Moratorium verhängt, und das ist eine politische Aussage gewesen", betonte die Kanzlerin. Neben den sieben älteren bleibt das wegen technischer Probleme runtergefahrene AKW Krümmel vom Netz.
In Deutschland müsse ein Ausstieg aus der Kernenergie mit Augenmaß erfolgen, sagte Merkel. Es gehe jetzt darum, zu schauen, wie ein Zeitalter der erneuerbaren Energien schneller erreicht werden könne.
Kauder und Lammert haben Bedenken
In der Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Dienstag hatten Parlamentspräsident Norbert Lammert und der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Siegfried Kauder (beide CDU), rechtliche Bedenken geäußert. Die Fraktion billigte den Entschließungsantrag zu den Regierungsplänen aber dennoch einstimmig. Die Bundestagsverwaltung prüft, ob die Regierung für die von ihr geplante Abschaltung einen Parlamentsbeschluss benötigt.
Auch SPD und Grüne kritisierten, die vorübergehende Abschaltung mit Hilfe des Atomgesetzes sei kein rechtlich gangbarer Weg. Notwendig sei ein "Abschaltgesetz" zur Stilllegung der älteren Meiler, sagte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier.
Grüne befürchten Laufzeitübertragung
"Es gibt keine Rechtsgrundlage für eine Abschaltung, wenn man nicht zum alten Atomkonsens zurückkehrt", sagte Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck. "Es ist eine vorübergehende Kehrtwende, die ihre Halbwertszeit mit den Wahlterminen erreicht haben dürfte." Ohne neues Gesetz gebe es eine dauerhafte Abschaltung nur, wenn die Betreiber den Schritt aus eigener Einsicht gingen wie im Fall Neckarwestheim I. Es drohten ohne neue rechtliche Basis Schadenersatzforderungen der Atomkonzerne sowie eine Übertragung der Laufzeiten der nun abgeschalteten Meiler auf noch laufende AKW. Diese Frage hatte Merkel am Dienstag offengelassen.
Das Gesetz könne bereits in der kommenden Woche von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann: "Die Stilllegung über ein Abschaltgesetz kann unverzüglich ohne Übertragung der Restlaufzeiten auf andere Kernkraftwerke erfolgen."
SPD sieht keine Grundlage
Die SPD argumentiert ebenfalls, die von der Bundesregierung verfügte vorläufige Abschaltung habe im Atomgesetz keine Grundlage. Merkel sei daher darauf angewiesen, dass die Energieversorger die AKW als Geste des guten Willens freiwillig vom Netz nähmen.
Oppermann sieht die Kriterien, die eine Handhabe für eine Abschaltung auf Grundlage des Atomgesetzes böten, nicht als erfüllt an. In den Atomkraftwerken habe es weder gravierende Störfälle noch Verstöße gegen die Betreiberpflichten gegeben. "Deshalb kann die vorläufige befristete Abschaltung nicht auf das Atomgesetz gestützt werden", sagte Oppermann. Das Atomgesetz müsse daher mit dem Abschaltgesetz geändert werden.
"Die Wendehälse rennen um die Wette"

Merkel versucht gemeinsam mit ihrem Sprecher Seibert die richtigen Worte zu finden, wie der Öffentlichkeit der aktuelle Regierungpolitik nahegebracht werden könnte.
(Foto: AP)
SPD will die von Schwarz-Gelb im vorigen Jahr durchgesetzte Laufzeitenverlängerungen zurücknehmen und zum rot-grünen Ausstiegsgesetz zurückkehren. Auch das von der Bundesregierung ausgesetzte kerntechnische Regelwerk aus dem Jahr 2009 solle in Kraft gesetzt werden. Dies würde die Auflagen für Nachrüstungen der Atomkraftwerke verschärfen.
Oppermann nannte die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten von CDU und CSU in Ländern mit AKW-Standorten Wendehälse: Sie "rennen um die Wette", um sich von der eigenen Atompolitik zu verabschieden.
Röttgen will "zügig" agieren
Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) verteidigte das Vorgehen der Regierung. Nach einer Sondersitzung des Bundestags-Umweltausschusses zur Zukunft der 17 deutschen Atomkraftwerke sagte er, zwar gebe es keine konkreten Bedenken hinsichtlich der Sicherheit dieser Kraftwerke, doch sei ihre Abschaltung als "Maßnahme zur Gefahrenvorsorge" geboten.
"Wir können jetzt nicht lange Gesetzgebungsverfahren abwarten", sagte der Minister, " es bedarf eines zügigen Handelns". Allerdings ist Röttgen überzeugt, dass am Ende des von der Regierung verkündeten dreimonatigen Moratoriums auch gesetzliche Änderungen stehen werden: "Ich persönlich rechne auch mit gesetzgeberischen Maßnahmen."
Gabriel vermutet einen Deal
Die Regierung beruft sich bei ihrem dreimonatigen Moratorium mit der Abschaltung von acht - teilweise bereits stillstehenden - Reaktoren auf Paragraf 19 des Atomgesetzes. Dort ist geregelt, dass AKW in Notsituationen stillgelegt werden können. Da nach Meinung der Opposition aber keine Gefahr droht, könnten die Energiekonzerne Schadenersatz für ihre Einnahmeausfälle verlangen. SPD-Chef Sigmar Gabriel vermutet deshalb "einen zweiten Deal (der Regierung) mit der Atomwirtschaft".
Das Moratorium sei ein politischer, kein rechtlicher Schritt, sagte Röttgen dazu. "Die Exekutive kann nicht Gesetze außer Kraft setzen." Damit gilt die Laufzeitverlängerung gemäß den Atomgesetznovellen der Koalition weiter. Die Betreiber könnten Reststrommengen der nun erst einmal abgeschalteten älteren Meiler demnach auf die neueren übertragen. Für Röttgen ist dieses Szenario aber unrealistisch: "Das sind abwegige Gedanken", sagte er.
Schweigeminute für die Opfer
Vor der Sitzung des Umweltausschusses gedachte der Deutsche Bundestag mit einer Gedenkminute den tausenden Opfern des Erdbebens und Tsunamis in Japan. "Wir alle stehen unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse in Japan, nach denen es kein einfaches Eintreten in die Tagesordnung geben kann. Die Nachrichten aus dem Katastrophengebiet halten die Welt in Atem, auch in unserem Land", sagte Lammert.
Das Ausmaß dieser Katastrophe erschüttere alle Menschen in Deutschland. An den japanischen Botschafter Takahiro Shinyo gewandt sicherte Lammert Japan "Solidarität und Unterstützung bei der Bewältigung der Katastrophe" zu. Er wisse, dass viele Menschen in Deutschland Japan helfen wollen.
AKW offenbar für immer vom Netz
Der Unions-Obmann im Umweltausschuss, Josef Göppel (CSU), geht davon aus, dass die sieben ältesten Atomkraftwerke und der Meiler Krümmel für immer stillgelegt werden. "Ich bin überzeugt, dass es dauerhaft ist", sagte Göppel am Rande der Sondersitzung des Umweltausschusses.
Göppel begründete dies mit verschärften Nachrüstanforderungen nach der Atomkatastrophe von Fukushima. Die Kosten würden den Betrieb der älteren Anlagen wohl unrentabel machen, so fehle etwa ein umfassender Schutz der Reaktoren gegen Flugzeugabstürze. Göppel hatte schon die Verlängerung der Laufzeiten im Oktober abgelehnt.
Keine Stromlücke in Sicht
Nach Ansicht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) könnten "vier oder fünf Atomkraftwerke" problemlos dauerhaft abgeschaltet werden, ohne das eine Stromlücke entsteht. "Was man heute braucht, ist ein verlässliches Energiekonzept", sagte DIW-Energieexpertin Claudia Kemfert n-tv.de. "Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien benötigen wir den Ausbau der Infrastruktur und Energiespeicher."
Nach Ansicht des Greenpeace-Atomexperten Tobias Münchmeyer sollten die verbleibenden neun Reaktoren in den kommenden vier bis fünf Jahren abgeschaltet werden. Es gebe verschiedene Szenarien, die auch international Anerkennung gefunden hätten, nach denen ein kompletter Atomausstieg bis zum Jahr 2015 machbar wäre, sagte Münchmeyer bei n-tv.
Quelle: ntv.de, ppo/hdi/hvo/dpa