Politik

"Spätrömische Dekadenz" Merkel watscht Westerwelle ab

Bundeskanzlerin Merkel kann die verbale Attacke ihres Stellvertreters in der Hartz-IV-Debatte nicht billigen. Über ihre Sprecherin lässt die CDU-Chefin mitteilen, dass Westerwelles Worte "nicht dem Diktus der Kanzlerin" entsprächen. Der FDP-Chef hatte die Ausgestaltung der Hartz-IV-Gesetze als "spätrömische Dekadenz" bezeichnet.

Merkel schätzt den verbalen Ausritt ihres Stellvertreters nicht.

Merkel schätzt den verbalen Ausritt ihres Stellvertreters nicht.

(Foto: dpa)

Mit seiner Kritik an der Hartz-IV-Debatte hat FDP-Chef Guido Westerwelle eine Welle der Empörung ausgelöst. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ging auf Distanz. Aus der SPD kam die Forderung nach einer Entschuldigung. Westerwelle lehnte ab. Grüne und Linke warfen Westerwelle eine Gefährdung des sozialen Friedens in Deutschland vor. Gewerkschaften und Sozialverbände sehen in seinen Äußerungen eine Diffamierung von Millionen Langzeitarbeitslosen.

Westerwelle bekäftigte derweil seine Kritik an der Hartz-IV-Debatte. "Die Diskussion um das Urteil des Verfassungserichts trägt klar sozialistische Züge. Von meiner Kommentierung dieser Debatte habe ich keine Silbe zurückzunehmen", sagte Westerwelle der "Passauer Neuen Presse". "Wenn man in Deutschland schon dafür angegriffen wird, dass derjenige, der arbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet, dann ist das geistiger Sozialismus", erklärte der Liberale.

In der Opposition war Westerwelle für seine geschliffene Rhetorik bekannt.

In der Opposition war Westerwelle für seine geschliffene Rhetorik bekannt.

(Foto: REUTERS)

Kleine und mittlere Einkommen dürften nicht länger "die Melkkühe der Gesellschaft" sein, klagte Westerwelle weiter. "Wer arbeitet, darf nicht mehr und mehr zum Deppen der Nation gemacht werden." Der FDP-Chef warnte vor einer Spaltung der Gesellschaft, die drohe, "wenn die Mittelschicht noch weiter schrumpft". Für viele Linke sei Leistung ja beinahe eine Form von Körperverletzung. "Wenn wir die Leistung der Mittelschicht länger ignorieren, ist die Gefahr groß, dass unser Land scheitert."

Merkel bleibt undeutlich

Die Kanzlerin ließ unterdessen mitteilen, dass sie mit Westerwelles Ansichten in dieser Diskussion nichts zu tun haben möchte. "Das ist sicherlich weniger der Duktus der Kanzlerin", ließ Merkel durch ihre Vize-Regierungssprecherin Sabine Heimbach in Berlin verkünden. "Es ist sicher individuell unterschiedlich, die Sprachführung, die da jeder wählt", fügte sie hinzu. Heimbach betonte: "Die Kommentierung ist eine Stellungnahme innerhalb einer parteipolitischen Diskussion."

Westerwelle hatte zuvor argumentiert, wer "anstrengungslosen Wohlstand" verspreche, lade zu "spätrömischer Dekadenz ein". Er riet, statt über die Frage höherer staatliche Leistungen zu diskutieren, die Leistungen des Steuerzahlers in den Mittelpunkt zu rücken.

Entschuldigung wird fällig

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) sagte im ZDF: "Wer so etwas sagt, hat die Lebensrealität der Menschen völlig aus dem Auge verloren. Ich finde, da ist eine Entschuldigung fällig." Westerwelle hatte unter anderem beklagt, es scheine in Deutschland "nur noch Bezieher von Steuergeld" zu geben, aber "niemanden, der das alles erarbeitet".

Grünen-Chef Cem Özdemir sagte: "Die FDP spielt gnadenlos Geringverdiener gegen Arbeitslose aus und zündelt so am sozialen Frieden im Land." Westerwelle schwebe auf einer wattigen Luxuswolke. Der Bundesgeschäftsführer der Linken, Dietmar Bartsch, kritisierte: "Kaum brechen die Umfragewerte zu Recht ein, keilt und tritt Westerwelle nach den Schwächsten in der Gesellschaft." Grünen- Fraktionschefin Renate Künast kritisierte Westerwelle scharf. "Wenn er in Zusammenhang mit Hartz IV von spätrömischer Dekadenz spricht, beleidigt Herr Westerwelle Millionen Langzeitarbeitslose in Deutschland", sagte sie "Passauer Neuen Presse".

Vielleicht ist doch alles nur eine Art Karnevalsklamauk des FDP-Chefs.

Vielleicht ist doch alles nur eine Art Karnevalsklamauk des FDP-Chefs.

(Foto: dpa)

Heftige Kritik kam auch von den Gewerkschaften. "Jetzt lässt Guido Westerwelle die Maske fallen, sagte ver.di-Chef Frank Bsirske der "Passauer Neuen Presse". Sozialleistungen seien keine Gnadengabe, sondern Verpflichtung eines demokratischen Rechtsstaats, der die Menschenwürde garantiere. Der Präsident des Sozialverbands Deutschland, Adolf Bauer, sagte: "Mit seiner verbalen Attacke verhöhnt der FDP-Parteivorsitzende Guido Westerwelle Millionen Menschen die Hartz-IV beziehen ebenso wie diejenigen, die für Hungerlöhne arbeiten." DGB-Chef Michael Sommer sagte den "Ruhr Nachrichten": "Es ist für einen Vizekanzler unangemessen, Millionen von Hartz-IV-Beziehern so zu diffamieren."

Ein Fläschchenwärmer für alle

Auch Teddys kann man von Kind zu Kind weiterreichen.

Auch Teddys kann man von Kind zu Kind weiterreichen.

(Foto: dpa)

Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) forderte unterschiedliche Sätze für Geschwisterkinder. "Wir sollten nun auch überlegen, ob für das zweite und dritte Kind der gleiche Bedarf besteht, wie für das erste Kind", sagte sie der "Passauer Neuen Presse". Denn es gebe Kosten, die nicht für jedes weitere Kind in vollem Umfang neu entstehen, wie Fläschchenwärmer, Kinderwagen oder Autositz. "Die Kleidung der größeren Kinder kann durchaus weitergegeben werden, so wie es in Familien üblich ist." Die Ministerin sprach sich zudem dafür aus, statt reiner Geldleistungen alle Bildungsangebote für Kinder umsonst anzubieten.

Kostenlose Zirkel verteilen

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ist bei der Nachberechnung der Hartz-IV-Sätze für Kinder "entschlossen, neue Wege zu gehen". Sie sagte der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung", das Bundesverfassungsgericht habe "sehr deutlich gesagt, dass wir bei Bildung auch Sachleistungen und Dienstleistungen anbieten können. Der Bund muss nicht direkt das Geld an die Familien geben, sondern kann ein Netzwerk der Hilfe aufbauen."

Der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, sagte der "Berliner Zeitung", er sei sehr zufrieden, dass das Gericht auf die Teilhabe hingewiesen habe. "Das heißt eben auch", so Gysi, "wie kommen die betroffenen Erwachsenen und Kinder an Bücher, an CDs, wie können sie ins Kino oder ins Theater gehen." Davon hänge auch das Bildungsniveau ab. "Und nicht davon, ob ein Kind mal kostenlos einen Zirkel bekommt, wie Frau von der Leyen das wohl vorschwebt."

Quelle: ntv.de, dpa/AFP/rts

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