Phantomwahl in Algerien "Noch hält das Volk still"
17.04.2014, 06:35 Uhr
Wie viel kann die Jugend in Algerien noch mit den alten Eliten anfangen? Noch ein paar Jahre, schätzt Algerien-Kennerin Werenfels, dann wird das Totschlagargument vom Bürgerkrieg in den 1990ern die Menschen nicht mehr ruhigstellen.
(Foto: REUTERS)
Algerien hatte keinen "Arabischen Frühling", die Menschen hier scheuen die große Veränderung. Deshalb wählen sie heute einen Präsidenten, der alt, gebrechlich und ferngesteuert ist. Im Interview mit n-tv.de erklärt Maghreb-Expertin Isabelle Werenfels, warum die große Veränderung wohl erst in ein paar Jahren kommt.
n-tv.de: Heute wird in Algerien ein neuer Präsident gewählt. Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der neue Präsident der alte sein und das ist der 77 Jahre alte, von einem Schlaganfall gezeichnete Abd al-Aziz Bouteflika. Seine Gegner spotten über den Phantomwahlkampf. Wie wirbt Bouteflika eigentlich für sich, ohne selbst aufzutreten?
Isabelle Werenfels: Die engen Gefolgsleute vo n Bouteflika bestreiten den Wahlkampf für ihn. Er selbst hat ein paar Mal Nachrichten verlesen lassen. Er ist auch entgegen dem, was man hier liest, schon öfter im Fernsehen aufgetreten, aber immer nur sehr kurz, zum Beispiel, als er mit dem amerikanischen Außenminister John Kerry gesprochen hat. Es gibt ein Video von mehreren Minuten, in dem er auch aufsteht, obwohl es immer heißt, er würde nur sitzen. Es ist also nicht ganz phantommäßig.
Ein Wahlkampf ist immerhin ein überschaubarer Zeitraum. Aber wie soll Bouteflika weitere fünf Jahre das Amt ausüben?
Es stellt sich natürlich die Frage, welchen Sinn eine Kandidatur unter diesen Umständen hat. Es ist völlig klar, dass Bouteflika kein Präsident mehr sein wird, der das Land bereisen kann. Er ist auch kein Präsident mehr, der sich in Konfliktphasen wird durchsetzen können, weil ihm ganz offensichtlich die Energie fehlt.
- Geboren am 2.3.1937 im marokkanischen Oujda
- Ab 1956 Mitglied der Nationalen Befreiungsfront FLN
- Politische Karriere nach der Unabhängigkeit ab 1962, zuerst als Minister für Jugend und Sport, dann als Außenminister bis 1978
- 1981-1989 im Exil
- 1994 erster Versuch des Militärs, Bouteflika als Präsident zu installieren
- Seit 1999 Präsident von Algerien in drei Amtszeiten
Gibt es denn nicht einmal eine Alternative zu Bouteflika innerhalb seiner Machtclique? Oder wollen seine Gefolgsleute genau das: sich elegant im Hintergrund halten und trotzdem Macht ausüben?
Die Elite in Algerien ist gespalten wie seit vielen Jahren nicht mehr. Es gibt zwei Lager. Das eine hat Angst, mehr zu verlieren als es gewinnen kann, wenn Bouteflika weg ist. Das andere Lager sieht in ihm allerdings das größere Risiko, weil eben nicht sicher ist, wie handlungsfähig er noch ist. So lässt sich erklären, dass es einen zweiten starken Kandidaten gibt, der reformorientierter ist. In einem sind sich die beiden Seiten aber einig: Sie wollen letztlich den Status quo erhalten. Deshalb ist auch Bouteflikas Gegenkandidat Ali Benflis einer, der im System großgeworden ist.
Wofür steht Ali Benflis?
Ali Benflis war von 2000 bis 2003 Premierminister und gilt als wenig korrupt. Er hat begriffen, dass Algerien in eine wirklich tiefe Krise hineingeraten könnte und sagt: "Wir brauchen einen Rechtsstaat. Wir brauchen starke, funktionierende Institutionen und wir müssen die Korruption bekämpfen." Wenn er das wirklich durchziehen kann, dann hat er tatsächlich das Fundament für einen Reformprozess gelegt.

Ali Benflis, der wenig aussichtsreiche einzige Gegenkandidat von Bouteflika gilt als wenig korrupt und reformwillig. Doch er ist auch fest im System der algerischen Machtcliquen verwurzelt.
(Foto: REUTERS)
Es gibt also zwei Kandidaten, die beide aus der Elite stammen, die aber gespalten ist. Wer hat die besseren Chancen?
Wenn nicht manipuliert würde, könnte der Ausgang offen sein, weil Benflis sehr stark dazugewonnen hat und Teile der Machtcliquen hinter sich hat. Aber Bouteflika sitzt am längeren Hebel. Der Justizminister und der Präsident des Verfassungsgerichtes stehen hinter ihm. Das sind die Leute, die nachher die Wahlen absegnen müssen. Bouteflika hat auch dank der staatlichen Medien Zugriff auf die ganze Maschinerie, die die Wahlen beeinflussen und letztlich manipulieren kann.
Das wissen sicherlich auch die Kreise, die Benflis unterstützen. Warum gehen sie dieses Risiko ein, sich nicht loyal zu zeigen und einen anderen zu unterstützen?
Innerhalb der Elite haben einige erkannt, dass es richtig bergab gehen könnte, wenn keine Reformen eingeleitet werden. Noch hält das Volk still und ist zufrieden mit den kleinen Verbesserungen, die es gab. Anders als noch vor ein paar Jahren haben aber zentrale Akteure im Militär und Geheimdienst jetzt richtig Angst vor dem, was Algerien ohne Reformen bevorstehen könnte.
Sie selbst haben bereits davor gewarnt, dass Algerien sich ohne Reformen wieder destabilisieren könnte. Wo liegen die Probleme?
Die algerische Führung erstickt im Moment

Isabelle Werenfels leitet an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik die Forschungsgruppe Naher Osten und Nordafrika. Sie ist ausgewiesene Maghreb-Kennerin.
(Foto: SWP Berlin)
jeden Aufstand durch kleine Geschenke hier und Subventionen da. Finanziert wird das mit den großen Erdöleinnahmen des Landes. Mittelfristig wird das aber nicht mehr funkionieren. Die Staatsführung gibt die dringenden strategischen Entscheidungen, die im Erdöl- und Erdgassektor nötig sind, nicht aus der Hand. Die Gesetzgebung ist für ausländische Investoren abschreckend und es gibt generell einen großen Modernisierungsbedarf in der Wirtschaft.
Es wird immer wieder hervorgehoben, dass Bouteflika durchaus etwas erreicht hat. Er habe das Land nach dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren befriedet, soziale Programme aufgelegt und verhindert, dass in Algerien ein Arabischer Frühling ausbricht. Er habe für Sicherheit gesorgt und die Wirtschaft steht nicht ganz so schlecht da wie etwa in Ägypten. Was spricht aus Sicht seiner Anhänger jetzt noch für Bouteflika?
Es ist hauptsächlich die Entourage Bouteflikas, die sich sehr stark für dessen Wiederwahl engagiert. Aber auch in den Augen vieler Algerier spricht manches nach wie vor für Bouteflika. Diese Leute haben Angst, dass es wieder Unsicherheit gibt. Das Pro-Kopf-Einkommen und damit die Kaufkraft der Algerier hat zugenommen. Es geht den Leute ein bisschen besser - auch wenn der Ölreichtum sehr schlecht verwaltet wird, sehr viel Geld in Korruption versickert und nicht die Rahmenbedinungen geschaffen werden, die die Privatwirtschaft stützen und Arbeitsplätze auf Dauer schaffen.

Wahlkampf mit einem Phantom: Bouteflikas Wahlkampfleiter Abelmalik Sellal hält die Reden und verweist auf die großen Erfolge des Präsidenten. Wahlkampf brauche dieser nicht zu machen, weil er über jede Kritik erhaben sei, meint Sellal.
(Foto: REUTERS)
In anderen arabischen Ländern wa r der Leidensdruck vielleicht etwas größer, aber die Menschen dort haben auch mehr Courage gezeigt. Warum sind die Algerier so zögerlich, warum gab es nicht schon längst einen Arabischen Frühling in Algerien?
Die Algerier gucken natürlich nach Tunesien. Dort sieht es relativ gut aus. Dann schauen sie nach Ägypten und dort sieht es derzeit gar nicht gut aus. Es gibt in Ägypten viel mehr Repressionen als in Algerien und es ist eine Spirale der Gewalt im Gange, wie sie die Algerier gerade seit ein paar Jahren hinter sich gelassen haben. Und sie schauen nach Libyen und fragen sich, ob sie das riskieren wollen oder nicht. Im Moment wollen die Algerier Stabilität, Kontinuität und Ruhe.
Der Wunsch nach mehr politischer Freiheit spielt für die Algerier also weniger eine Rolle als für die Tunesier oder Libyer?
Algerien ist nicht so repressiv wie es Tunesien und Libyen waren. Für die Algerier ist in erster Linie wichtig, dass sie sich sicher fühlen und dass der Erdölreichtum sinnvoller eingesetzt wird.
Wie lange funktionieren das Trauma des Bürgerkriegs und die aktuellen abschreckenden Beispiele in der Region noch als Totschlagargument gegen jede größere Veränderung in Algerien?
Das kann sich schon in fünf bis sechs Jahren, spätestens aber mit der nächsten Generation ändern. Nicht nur die schreckliche Erfahrung des Bürgerkriegs mit rund 150.000 Toten verblasst, sondern auch die revolutionäre Legitimität der jetzigen Führung. Ali Benflis macht jetzt noch damit Wahlkampf, dass er der Sohn eines Märtyrers ist, der einst für die Unabhängigkeit kämpfte. In ein paar Jahren wird das schon nicht mehr so ziehen. Von zentraler Bedeutung ist aber auch, welche Vorbilder Tunesien und Marokko abgeben werden. Die Algerier werden sicher mehr riskieren, wenn die Entwicklungen dort positiv verlaufen.

Mehrere Parteien rufen gemeinsam zum Boykott der Bouteflika-Wahl auf. V.l.: Sofiane Djilali, Chef der Partei "Neue Generation", Abderazik Mokri, Chef der "Islamischen Bewegung für eine friedliche Gesellschaft" sowie Mohsen Belabbas der oppositionellen "Vereinigung für Kultur und Demokratie".
(Foto: dpa)
In Algerien gibt es inzwischen auch ein e Oppositionsbewegung namens "Barakat". Wie stark ist sie wirklich?
Zahlenmässig nicht sehr stark, aber ich bin positiv überrascht, wie lange sich diese Gruppe gehalten hat. In Algerien werden solche Gruppen normalerweise gespalten oder tun es selbst. Bemerkenswert ist, dass Islamisten und Radikalsäkulare gemeinsam für ein Wahlboykott arbeiten. Wie sie sich weiter entwickelt, hängt vom Ergebnis der Präsidentschaftswahl ab. Stimmten zum Beispiel 70 Prozent für Bouteflika bei 35 Prozent Wahlbeteiligung, würde das keiner glauben, und es würde wohl einen Aufschrei geben. Wenn geschickter manipuliert wird, dann wird es schwieriger zu mobilisieren. Dann wird der Druck für die Regierung aber auch größer, Reformen anzugehen, weil die Legitimität des Präsidenten geringer wäre.
Spielt die islamische Parteienallianz noch eine Rolle?
Nein, diese Bewegung ist auseinandergebrochen. Ihr wichtigster Repräsentant, Abdarazik Mokri hat zwar sehr große politische Ambitionen, ist aber auch sehr klug. Er hat erkannt, dass jetzt nicht der richtige Moment ist, um auf der politischen Bühne in Erscheinung zu treten - nach allem, was in Ägypten mit den Muslimbrüdern passiert ist und auch nach den Protesten in Tunesien gegen Rachid al-Ghannouchi, dem Anführer der islamischen Partei En-Nahda.
Wie populär sind islamische Kräfte in der Bevölkerung?
In Algerien wäre eine konservative Bewegung so populär wie in anderen arabischen Ländern auch. Sie würde wohl nur nicht von den Islamisten angeführt. Denn obwohl die meisten Algerier wissen, dass die Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg von allen Seiten, auch vom Militär, begangen wurden, wird doch letztlich die Schuld den Islamisten in die Schuhe geschoben.
Wie stehen die Chancen, dass Algerien einen einen eigenen Weg hinbekommt, einen zwischen unkontrollierbarem Volksaufstand und Stillstand?
Eine Perspektive ist nicht uninteressant und zwar die, ob ein Vizepräsident ernannt wird und wer das ist. Es könnte ja auch Ali Benflis Vizepräsident werden. Viele Fragen sind offen. Was macht Bouteflika, wenn er jetzt die Wahl gewinnt? Und was macht sein Umfeld damit? Entscheiden sie sich für eine ganz langsame Transition? Und dann ist die Frage, wie viel innerer Druck ist da für Reformen. Der wächst definitiv. Protestbewegungen wie Barakat werden nicht komplett verschwinden. Dann werden wir gewisse Reformen sehen. Aber die werden meiner Meinung nach kosmetisch sein. An die Substanz traut sich keiner ran, denn dann sind letztlich alle Machteliten weg.
Das klingt so, als wollten alle Algerier, egal aus welchem politischen Lager, einfach nur Zeit gewinnen für den ganz großen Wurf in einigen Jahren.
In der Tat: Es geht den Eliten und der Bevölkerung darum, Zeit zu gewinnen. Um zu sehen, wie sich die Arabische Welt um sie herum sortiert.
Mit Isabelle Werenfels sprach Nora Schareika
Quelle: ntv.de