Syrische Aktivisten verbreiteten schreckliche Bilder aus dem Umland von Damaskus. Wieder wird der Vorwurf laut, dass Regierungstruppen Giftgas gegen die eigene Bevölkerung einsetzen. Belegbar sind weder die Bilder noch der Einsatz selbst. UN-Experten sollen jetzt die Folgen vor Ort überprüfen.
Die syrische Opposition beschuldigt die Staatsführung, bei Angriffen an diesem Mittwoch in der Nähe von Damaskus mehrere hundert Menschen mit Chemiewaffen getötet zu haben. "Mehr als 650 Tote sind das Ergebnis einer tödlichen Attacke mit Chemiewaffen in Syrien", hieß es in einer Stellungnahme der Nationalen Koalition, der wichtigsten syrischen Oppositionsgruppe. Zuvor hatten bereits mehrere Oppositionsgruppen von einem Giftgaseinsatz der Regierungsarmee in der Region Ghuta nahe der syrischen Hauptstadt berichtet. Unter anderem wurden dabei auch Totenzahlen bis 1300 genannt.
Eine Oppositionsgruppe, der allgemeine syrische Revolutionsausschuss, veröffentlichte Videos auf YouTube, die den Giftgaseinsatz belegen sollten. In einer Aufnahme sind Kinder zu sehen, die in einem Krankenhaus behandelt werden. Andere Bilder zeigen Dutzende Leichen. Die Angaben der verschiedenen Organisationen konnten bislang nicht überprüft werden.
Aus einem provisorischen Krankenhaus in Naruta Scharkija wurden Bilder mit "Bergen von Leichen, vor allem kleinen Kindern und Babies" veröffentlicht. Das berichtet der Fernsehsender El Arabija. "Die Luft ist geschwängert mit Chemikalien und das hat die Menschen umgebracht."
Al Dschasira TV berichtete bereits von "einem Massaker am Mittwochmorgen". Dann kommt ein Mann zu Wort, der fragt: "Obama, wo sind deine Roten Linien? Wie lange soll das noch weitergehen." US-Präsident Barack Obama hatte schon vor Monaten erklärt, dass der Einsatz von Giftgas im Bürgerkrieg in Syrien eine "Rote Linie" bedeute, die ein Eingreifen der USA erzwinge.
Briten schalten UN-Sicherheitsrat ein
Dutzende Kinder überleben den Anschlag verletzt.
(Foto: AP)
Der syrische Oppositionschef Ahmad Dscharba verlangte im Sender Al-Arabija eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates wegen des "Massakers". Der britische Außenminister William Hague erklärte, sein Land werde die Vorwürfe vor dem Sicherheitsrat erörtern. Er sei "zutiefst beunruhigt" über die Berichte. Sollten sich der Fall bestätigen, würden die Verursacher zur Verantwortung gezogen - "auf jede Weise, die uns zur Verfügung steht", sagte Hague. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton reagierte "mit großer Sorge" auf Berichte. Sie forderte sie eine "unverzügliche und eingehende Untersuchung". Und weiter: "Die EU bekräftigt, dass jeder Einsatz von chemischen Waffen in Syrien, von welcher Seite auch immer, völlig inakzeptabel wäre."
Die Regierung bestritt zwar nicht die Angriffe, aber den Einsatz von Chemiewaffen. Die Nachrichtenagentur Sana schrieb: "Die TV-Kanäle, die an dem Blutvergießen in Syrien und der Unterstützung des Terrorismus beteiligt sind, veröffentlichen diese Berichte, die frei erfunden sind, um das Team, das den Einsatz von Chemiewaffen untersuchen soll, abzulenken, und somit den Erfolg seiner Mission zu verhindern."
Ermittler sollen sofort untersuchen
Assads Giftgasarsenal
Syriens Herrscher Baschar al-Assad soll internationalen Experten zufolge über hunderte Tonnen Giftgas verfügen. Sein Arsenal könnte aus diversen Chemiewaffen bestehen:
Sarin wurde 1938 von deutschen Chemikern der IG-Farben entwickelt. Es ist hochwirksam, schon kleinste Mengen wirken tödlich. Es kann über die Haut oder Atmung aufgenommen werden und dann zur vollständigen Lähmung führen. Da es weder riecht noch sichtbar ist, lassen sich Wasser und Nahrung damit leicht vergiften.
Das Nervengas VX ist eine farblose bis gelbliche Flüssigkeit, die über die Augen und die Atemwege in den Körper eindringt. Schon die geringsten Mengen führen zur Lähmung der Atemmuskulatur und zum Tod.
Senfgas wurde von einem Franzosen bereits im Jahr 1854 entwickelt, deutsche Truppen setzten es im Ersten Weltkrieg ein. Das Gas, das über die Haut eindringt, führt zu entstellenden Verletzungen und war lange Zeit eine der am meisten gefürchteten Waffen.
Tatsächlich sind derzeit UN-Experten in Syrien tätig, die frühere Berichte über Chemiewaffeneinsätze in dem Bürgerkriegsland prüfen sollen. Ebenso wie Oppositionschef Dscharba forderte der Chef der Arabischen Liga, Nabil al-Arabi, die Experten auf, sich "sofort" nach Ghuta zu begeben und die Vorwürfe zu prüfen. Auch der schwedische Außenminister Carl Bildt verlangte, die UN-Inspekteure müssten dringend Zugang zu der Region erhalten.
Das UN-Expertenteam ist erst seit wenigen Tagen in dem Land im Einsatz. Die Inspekteure unter Leitung des Schweden Ake Sellström sollen drei Orte besuchen, an denen angeblich chemische Kampfstoffe eingesetzt wurden. Experten gehen davon aus, dass Präsident Baschar al-Assad über ein beträchtliches Chemiewaffenarsenal verfügt. Regierung und Rebellen in dem Bürgerkriegsland beschuldigen sich gegenseitig, die tödlichen Kampfstoffe einzusetzen.
Den bisherigen Plänen zufolge sollen die Experten insbesondere dem Verdacht nachgehen, dass in der umkämpften Kleinstadt Chan al-Assal das hochgiftige Nervengas Sarin eingesetzt wurde. Das Gift war im Jahr 1938 von deutschen Chemikern der IG Farben entdeckt worden. Es wirkt schon in einer Dosis von einem halben Milligramm für einen Erwachsenen tödlich. Gegenmittel wirken nur, wenn sie sofort verabreicht werden.
Das größte Chemiewaffenprogramm im Nahen Osten
Nach Einschätzung des US-Militärgeheimdienstes DIA umfasst Syriens Chemiewaffenprogramm umfangreiche Nervengiftbestände, die auch mit Flugzeugen oder Raketen eingesetzt werden könnten. Experten des Monterey-Instituts aus den USA schätzen die Bestände auf "mehrere hundert Tonnen". Nach Angaben des französischen Experten Olivier Lepick ist das syrische Regierungsprogramm hoch entwickelt: Neben der Produktion von Sarin sei auch die Herstellung von Senfgas und des Nervengases VX gelungen.
Syriens Chemiewaffenprogramm soll in den 1970er Jahren mit Hilfe Ägyptens und der Sowjetunion als Gegengewicht zu den israelischen Atomwaffen angestoßen worden sein. Laut der unabhängigen Nuclear Threat Initiative erhielt Syrien in den 90er Jahren von Russland und von 2005 an auch vom Iran Unterstützung bei der Entwicklung von Chemiewaffen. Nach Informationen des Pariser Forschungsinstituts für strategische Studien (IIES) verfügt Syrien heute über "das größte Chemiewaffenprogramm im Nahen Osten".