Gewalt-Debatte nach Erfurt Parteien ohne Patentrezept
03.07.2002, 07:30 UhrRund zehn Wochen nach der Bluttat im Erfurter Gutenberg-Gymnasium hat sich der Bundestag in Berlin mit der Gewaltproblematik befasst. Vertreter aller Fraktionen betonten in einer sachlichen Debatte, wie wichtig die Vermittlung von Werten sei. Nur so könnten Gewaltausbrüche verhindert werden.
Leistungsdruck, Versagensängste und Konkurrenzkampf - das sind die Gründe, die Schüler in Briefen als Grund für die Erfurter Gewalttat angaben, so berichtete Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Der SPD-Politiker sagte, die Gesellschaft müsse auch diejenigen aufnehmen, "die am Markt des Geldes und der Eitelkeit scheitern".
Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel sagte, in Erfurt habe ein 19-Jähriger in 15 Minuten 16 Menschen und sich selbst getötet. Eine weitere Gewalttat dieser Art könne nicht ausgeschlossen, sondern nur weniger wahrscheinlich gemacht werden. Mehr Pädagogen müssten wieder mehr Werte weitergeben.
FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt sprach sich gegen eine zu starke Reglementierung der Medien aus. Vielmehr müssten die Menschen in den Stand versetzt werden, auf bestimmte Angebote wie Gewaltdarstellungen zu verzichten. Die PDS-Parlamentarierin Petra Pau erläuterte: "Immer, wenn die Würde des Menschen angetastet wird, hat das etwas mit Gewalt zu tun."
Kritik an Polizei in Erfurt
Unterdessen wird die Kritik an der Einsatzleitung der Polizei immer lauter. Angehörige der Opfer, Ärzte und Polizeibeamte kritisierten laut Magazin "Stern", der Zugriff sei nicht schnell genug erfolgt. Zudem seien die Rettungsteams nicht rechtzeitig zu den Verletzten vorgelassen worden.
"Der ganze Einsatz war die größte Scheiße", gibt das Magazin einen Beamten des Sondereinsatzkommandos (SEK) wieder, das zum Gutenberg-Gymnasium entsandt worden war. "Der Einsatzleiter hat definitiv gegen die Lage entschieden ... Wenn ich weiß, dass es verletzte Kinder gibt, muss doch die Eigensicherung zurücktreten", zitiert der "Stern" weiter. Die schwer ausgerüsteten SEK-Kräfte seien darauf trainiert, notfalls auch als "Kugelfänger" herzuhalten.
Hätten Opfer doch überleben können?
Dem Bericht zufolge sollen Augenzeugen erklärt haben, nicht alle Opfer der Bluttat an der Schule seien sofort tot gewesen. Schüler hätten etwa einen schwer verletzten Lehrer noch eine Stunde lang atmen hören, nachdem der Attentäter ihn mit drei Schüssen niedergestreckt hatte. Auch ein weiterer Lehrer hätte noch gelebt, als ihn die Retter eineinhalb Stunden nach der Tat fanden. "Sein Herz schlug noch ganz normal", sagte der Rettungsassistenz Udo Fulge dem Magazin.
Schließlich hätten auch zwei Schüler den Angriff zunächst überlebt. Als knapp zweieinhalb Stunden nach den ersten Schüssen endlich ein Arzt bei ihnen gewesen sei, seien die beiden Schüler noch keine halbe Stunde tot gewesen.
Die Thüringer Landesregierung hatte den Einsatz in ihrem "vorläufigen Abschlussbericht" als fehlerlos bezeichnet. Die pathologischen Gutachten hätten bewiesen, "dass alle Opfer auch bei einer sofortigen medizinischen Notversorgung keine Überlebenschance gehabt hätten". Genau dies bezweifelt die Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten.
Das Thüringer Innenministerium will die neuerlichen Vorwürfe jetzt prüfen lassen.
Quelle: ntv.de