Politik

Forderungen nach Marshallplan So teuer sind die Kriegsschäden in der Ukraine

Die russischen Raketen treffen nicht selten auch Wohnblöcke wie diesen in Mariupol.

Die russischen Raketen treffen nicht selten auch Wohnblöcke wie diesen in Mariupol.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Mariupol, Cherson, Sjewjerodonezk - diese Städte stehen beispielhaft für die Verwüstungen, die Russland in der Ukraine anrichtet. Die verursachten Kriegsschäden belaufen sich schon jetzt auf mehrere hundert Milliarden Dollar. Tendenz steigend, je länger der Krieg dauert.

Zerstörte Fabriken, kaputte Straßen und angegriffene Häuserblocks. Tag für Tag werden die Schäden in der Ukraine größer. Russland zerschießt und zerbombt ganze Landstriche und hat manche Städte dem Erdboden gleich gemacht. Eroberung um jeden Preis. So gehen die russischen Soldaten in ihrem Nachbarland vor. Kremlchef Wladimir Putin will es so. Es ist ihm egal, wie stark die Ukraine zerstört wird, hat Militärexperte Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität im Stern-Podcast "Ukraine - die Lage" erklärt. "Rein objektiv betrachtet will man so ein Land nicht besetzt haben. Da sich aber Präsident Putin nicht nur, aber auch auf einer historischen Mission befindet, nämlich Teile der Ukraine nach Russland zurückzuholen, ist es ihm relativ egal, ob er da eine komplette Wüste übernimmt oder nicht."

Mit dem russischen Zerstörungsfeldzug beschäftigt sich auch Bernd Ziesemer Tag für Tag. Der Journalist und Russland-Experte ist Kolumnist beim Wirtschaftsmagazin "Capital" und war viele Jahre lang Chefredakteur beim "Handelsblatt". Im Podcast "Die Stunde Null", dem Wirtschaftspodcast von Capital und ntv, sagt er, Russland gehe "wie eine Dampfwalze vor, um ukrainische Gebiete zu erobern". Das Ergebnis sei "völlige Zerstörung". Die russische Kriegsführung sei "darauf ausgerichtet, praktisch die gesamte Infrastruktur und ganze Städte zu zerstören".

"Deshalb ist dieser Krieg so teuer. Diese Art der Kriegsführung, diese Zerstörung von Fabriken, von Infrastruktur, in einem entwickelten Land mitten in Europa, hat eben verheerende ökonomische Folgen", analysiert Ziesemer, der anmerkt, dass es sich schon nach 100 Tagen Krieg um den "ökonomisch gesehen teuersten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg" handele.

"Donbass als Ruhrgebiet der Ukraine"

Besonders heftig sind die Zerstörungen im Donbass. Vor allem seitdem sich die russische Armee aus den anderen Landesteilen weitgehend zurückgezogen hat und seine Angriffe auf den Osten der Ukraine konzentriert. "Ein Gebiet, dreimal so groß wie Nordrhein-Westfalen. Und es ähnelt von seiner Struktur her Nordrhein-Westfalen auch ein bisschen. Man spricht ja von dem Donbass als dem Ruhrgebiet der Ukraine", merkt Ziesemer an. "Es gibt dort sehr viele Fabriken, Stahlindustrie, Schwerindustrie, Maschinenbau."

Ein großer Teil des "Ruhrgebiets der Ukraine" ist mittlerweile zerstört. Wie groß die Schäden in der gesamten Ukraine sind, wird an der Kiew School of Economics akribisch dokumentiert. Für das gesamte Land schätzten die Forscherinnen und Forscher den Gesamtbetrag der direkten Schäden nach 100 Tagen Krieg auf 103,9 Milliarden Dollar. Den größten Anteil - etwa 40 Prozent - machen demnach zerstörte Wohnhäuser aus, dahinter folgen kaputte Straßen mit etwas über 30 Prozent. Darüber hinaus seien über 250 Firmen, 650 Krankenhäuser, über 1.100 Schulen, fast 700 Kindergärten, 200 Lagerhäuser, 20 Einkaufszentren und 28 Öldepots "beschädigt, zerstört oder beschlagnahmt" worden.

"Marshallplan für den Wiederaufbau"

"Hinzu kommen natürlich die ökonomischen Folgekosten, sodass man insgesamt auf eine Summe von wahrscheinlich 500 bis 600 Milliarden Euro kommt allein auf ukrainischer Seite", schätzt Ziesemer. Laut Werner Hoyer, dem Chef der Europäischen Investitionsbank, braucht die Ukraine bis zu einer Billion Euro externe Hilfszahlungen, um die Kriegsschäden eines Tages zu beheben. Dabei werde Europa den größten Teil bezahlen müssen, so Hoyer. Zum Vergleich: das größte Hilfspaket, das die EU während Corona geschnürt hat, betrug 750 Milliarden Euro.

Der Wiederaufbau werde zur "Generationenaufgabe", hat Olaf Scholz zuletzt im Bundestag betont. "Das Ausmaß der Zerstörung ist enorm. Manches erinnert nicht nur mich an die Bilder der zerstörten deutschen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg", so der Bundeskanzler. "Und wie damals das kriegszerstörte Europa, braucht auch die Ukraine einen Marshallplan für den Wiederaufbau."

In den ersten Jahren nach Weltkriegsende lag die Wirtschaft am Boden. Die USA wollten etwas dagegen tun. Außenminister George Marshall verkündete 1947 das European Recovery Program, den Marshallplan. Von 1948 bis 1952 wurden schließlich etwa 13 Milliarden Dollar in den Wiederaufbau Europas investiert. Das entspricht heutzutage mehr als 140 Milliarden Dollar. Die USA wollten damit sicherstellen, ein starkes Europa gegen den Ostblock zu positionieren. Der Marshallplan war ein Mittel gegen die Ausbreitung des Kommunismus.

"Ohne USA nicht da, wo wir heute sind"

"Wenn es diese Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, würden wir in einem anderen Land leben. Ohne die USA und das transatlantische Bündnis würden wir nicht da sein, wo wir heute sind", hat Historikerin Jessica Gienow-Hecht von der Freien Universität Berlin in einem Interview mit der Konrad-Adenauer-Stiftung erklärt.

Der Marshallplan habe seine Ziele mehr als übertroffen, sagt die Professorin. Geld und Konsumgüter flossen nach Europa, der Binnenmarkt wurde wieder in Bewegung gesetzt, die Wirtschaften liberalisiert. "Wenn der Bundeskanzler oder der ukrainische Präsident von einem Marshallplan für die Ukraine sprechen, meinen sie damit ein generöses humanitäres Programm, was der Ukraine nach Ende des Krieges helfen wird, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Das ist der Marshallplan aber nicht", betont Gienow-Hecht.

Für einen echten Marshallplan müssten sich die USA und Europa erstmal einig werden, dass sie nach Kriegsende eines Tages massiv Gelder in der Ukraine investieren wollen, um den Staat wieder aufzubauen und die Demokratie zu stärken, so die Historikerin. Zweitens bräuchte es ein klares Ziel, was genau man in der Ukraine erreichen wolle. Drittens bräuchte es eine Institution, die die Finanzhilfen organisiert. "International übergreifend, vielleicht angedockt an die Weltbank oder eine ähnliche Institution, die sich die Anträge aus der Ukraine anguckt und über die Vergabe entscheidet. Im nächsten Schritt müsste dann entschieden werden, welche Kriterien an diese Vergabe geknüpft wären", schlägt Gienow-Hecht vor.

Noch ist ein Ende des Kriegs in der Ukraine aber nicht absehbar. Sich schon jetzt Gedanken über den Wiederaufbau des Landes zu machen, kann aber dennoch nicht schaden. Auch Wolodymyr Selenskyj spricht das Thema in seinen Videobotschaften häufig an. Man werde "jedes Haus, jede Straße, jede Stadt wieder aufbauen", kündigt der ukrainische Präsident an. Dabei baut er natürlich auch auf Hilfe aus dem Westen.

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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Quelle: ntv.de

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