Harte Haltung in Migrationsfrage "Polens Regierung profitiert vom Grenzkonflikt"
16.11.2021, 18:06 Uhr
Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (r.) hat bereits die im Grenzgebiet stationierten Truppen besucht - mit solchen Auftritten dürfte er bei den PiS-Anhängern punkten.
(Foto: via REUTERS)
Der Konflikt an der Grenze zu Belarus eskaliert. Doch die polnische Regierung profitiert "zumindest kurzfristig", wie der Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau, David Gregosz, im Interview erklärt. Schließlich überlagere das Thema innenpolitische Probleme wie die Inflation oder den Streit um das Abtreibungsrecht. Zudem könne sich die Koalition aus der EU-skeptischen PiS und zwei kleinen Partnern auf zwei Themenfeldern profilieren: Migration und Kritik an Brüssel.
ntv.de: Wie wirkt sich der Grenzkonflikt auf die polnische Politik aus?
David Gregosz: Die Krise ist derzeit das bestimmende Thema in der politischen Diskussion in Polen. Und die Regierung profitiert vom Grenzkonflikt, zumindest kurzfristig. Denn sie vertritt schon immer eine sehr harte Haltung in Migrationsfragen.
Woran kann man erkennen, dass sie profitiert?
Die Grenzkrise überlagert Themen wie die Inflation, die derzeit bei sieben bis acht Prozent liegt, die sich verschlechternde Pandemie-Lage und den Streit um das Abtreibungsgesetz. Bei all diesen Themen steht die Regierung unter Druck, wird teils scharf kritisiert und hat auch nicht unbedingt eine Mehrheit hinter sich. Immer wieder gibt es auch große gesellschaftliche Proteste, bei denen ihr eine breite Opposition gegenübersteht.
Und der Konflikt mit Belarus lässt das vergessen?
Die Regierung versucht, sich auf zwei Themenfeldern zu profilieren: der Migration - ein klassisches Instrument von Populisten - und dem Streit mit der EU. Außen- und Europapolitik sind hier eine Variable der Innenpolitik. Alles, was etwa gegen Brüssel unternommen wird, zielt auch auf die eigenen Wähler und soll sie mobilisieren.
Wird die Krise von der Regierung vor allem als nationales Problem dargestellt?
Ja, als nationale Aufgabe und Herausforderung. Das ist der Grundton bei offiziellen Verlautbarungen des Regierungssprechers oder der Spitzen der Regierungsparteien. Das ist interessant, wenn man die Dimensionen der Migration betrachtet: In diesem Jahr gab es bis Juli laut EU-Kommission 85.000 illegale Grenzübertritte in der gesamten Union. An der Grenze zwischen Polen und Belarus gibt es etwa 4000 bis 5000 Migranten, die festsitzen, und es gab etwa 1000 illegale Grenzübertritte. Die Krise wird also größer dargestellt als sie eigentlich ist.
Kanzlerin Angela Merkel hat am Dienstag mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko telefoniert. Wie wird das aufgenommen?
Es gibt große Kritik an dem Telefonat, weil darin eine de-facto Anerkennung des belarussischen Regimes gesehen wird und Merkel demnach mit einem de-facto-Diktator verhandelt. Das wird in Polen scharf kritisiert.
Wie reagiert denn die polnische Opposition auf das harte Vorgehen an der Grenze?
Für die Opposition ist es schwierig, eine eigene und sichtbare Position zu entwickeln, die sich von der Regierung abhebt. Aber es wird durchaus die Frage gestellt, ob die Verweigerung europäischer Hilfe etwa durch die Grenzschutzagentur Frontex nicht ein Fehler ist. Vor allem die stärkste Oppositionskraft, die bürgerliche PO von Donald Tusk, kritisiert weniger die harte Haltung der Regierung als vielmehr, dass es keine Zusammenarbeit mit der EU gibt.
Gibt es Forderungen nach der Aufnahme der Menschen an der Grenze?
Es gibt meines Wissens nach keine politische Kraft, die eine Aufnahme der Migranten fordert. Es gibt lediglich zaghafte Kritik der Linken am Bau der Grenzmauer und die Forderung, den Menschen zu helfen.
Wie berichten die Medien über die Krise?
Die eindrücklichen Bilder von der Grenze werden gerade auch von den staatlichen Medien aufgegriffen. Vor allem die Bilder der letzten Tage, als eine größere Migrantengruppe versuchte, die Grenze zu überwinden. Andererseits wird die Verhängung des Ausnahmezustands über das Grenzgebiet von gesellschaftlichen Gruppen kritisiert, weil sie die freie Berichterstattung der Medien einschränkt und die Frage aufwirft, ob polnischer Grenzschutz und Armee Dinge vertuschen wollen.
Worum geht es PiS und Regierung mit ihrer harten Haltung?
Wie bei anderen Themen kann man auch hier die Haltung der Regierung über drei zentrale Begriffe verstehen: Souveränität, Unabhängigkeit und Sicherheit. Diese drei Elemente stehen im Mittelpunkt - und damit haben die PiS und ihre Koalitionspartner Erfolg in der Bevölkerung. Als der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk Mitte diesen Jahres in die polnische Politik zurückkehrte, gab es eine gewisse Aufbruchsstimmung in der Opposition. Aber dank der Migrationsfrage und ihrer EU-Kritik ist die Regierung wieder im Aufwind. Zumindest kurzfristig kann die Opposition dem nichts entgegensetzen.
Und mittel- oder langfristig?
Wenn sich die Krise verfestigt und immer weiter Menschen an die Grenze drängen und weiterhin Durchbrüche stattfinden, wird die Frage aufgeworfen werden, ob es nicht effizienter wäre, die EU einzubinden und Frontex zu beteiligen. Zudem will die polnische Regierung ja auch EU-Gelder für die Befestigung der Grenzanlage nutzen. Langfristig könnten diese Fragen die Regierung schwächen, weil sie ihre Kritik an der EU konterkarieren.
Erst heute gab es ein weiteres EuGH-Urteil gegen die polnische Justizreform …
Dieses Urteil gegen den Justizminister reiht sich ein in eine ganz lange Reihe von Rechtsprechungen gegen Polen. Im Grunde versucht die PiS, das ein Stück weit auszusitzen. Sie argumentiert, dass nicht Polen sich seit dem Beitritt 2004 verändert habe, sondern die EU als Rechtsgemeinschaft.
Wie begründet sie das?
Bei allen Urteilen kritisiert die Regierung, dass Brüssel und der EuGH keine Kompetenz über nicht-vergemeinschaftete Bereiche habe - also zum Beispiel die Benennung von Richtern oder die Einrichtung einer Disziplinarkammer. Die Grundsatzfrage für die PiS lautet: Darf Brüssel das überhaupt, wenn der Rechtsbereich noch gar nicht vergemeinschaftet wurde? Da stehen zwei Rechtspositionen nebeneinander, und ich glaube, dass das noch eine Weile so weitergeht. Brüssel hat wenig Handhabe gegen Polen, weil durchgreifende Sanktionen der Einstimmigkeit im EU-Rat bedürfen, die nicht gegeben ist.
Wenn es vor allem um unterschiedliche Rechtsauffassungen geht, legt es die polnische Regierung nicht auf einen EU-Austritt an?
Ganz genau. Von den führenden Kräften von Regierung und PiS wird auch immer wieder unterstrichen, dass die Debatte um einen sogenannten Polexit vor allem von der Opposition und den Medien geführt wird. Das stimmt zwar nicht ganz, weil es immer wieder im PiS-Umfeld Personen gibt, die sehr laut einen EU-Austritt ins Spiel bringen oder ein unabhängiges Polen in einer loseren EU fordern. Aber die führenden Köpfe der PiS, Jaroslaw Kaczynski oder Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, streben nach eigenen Worten keinen Polexit an. Ihr Ziel ist es, neu über Zweck und Ziel der EU zu diskutieren. Die Frage ist, ob Polen das mit einem konfrontativen Regierungskurs erreicht.
Mit David Gregosz sprach Markus Lippold
Quelle: ntv.de