Bericht von Wagner-Kämpfer "Prigoschin war bereit, für Belarus zu kämpfen"


Belarussische Grenzsoldaten sollen gemeinsam mit Wagner-Söldnern trainiert haben.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Die Verlegung der Wagner-Söldner nach Belarus kommt im Juli für viele überraschend. Was sie dort gemacht haben, weiß kaum einer. In einem exklusiven Interview, das ntv.de vorliegt, erzählt erstmals einer der Kämpfer von seinem Alltag im Lager bei Assipowitschy - und was Prigoschins letzte Worte an sie waren.
Der Marsch auf Moskau im Juni brachte für die Wagner-Gruppe in vielerlei Hinsicht den Tod: Zuerst wurden ihr die schweren Waffen abgenommen, dann wurden die Kämpfer nach Belarus verfrachtet. Wenig später wurden ihre Anführer Jewgeni Prigoschin und Dimitri Utkin bei einem Flugzeugabsturz getötet. Was jetzt aus dem privaten Söldner-Imperium wird und welche Aufgaben die Kämpfer in Belarus übernehmen sollen - bis heute unklar.
Journalisten einer belarussischen Nachrichtenseite ist es gelungen, mit einem der Kämpfer zu sprechen, der in Belarus stationiert war. Der Mann gehört nach eigenen Aussagen seit Sommer 2023 zu Wagner. In dem Telefongespräch, das er mit dem unabhängigen Nachrichtenportal Zerkalo führt, erzählt er, wie sein Alltag in dem belarussischen Camp in der Nähe von Assipowitschy aussah und welche Aufgaben er und andere Kämpfer dort hatten. Ihm zufolge bildeten Wagner-Söldner belarussische Grenzsoldaten aus. Offenbar ist ein großer Teil aber mittlerweile nach Russland zurückgekehrt.
Avram (Name geändert), der im Interview anonym bleiben will, kann keinen Nachweis liefern, dass er einen Vertrag mit Wagner hat. Die Journalisten von Zerkalo sind sich trotzdem sicher, dass die Angaben des Mannes wahr sind: Details aus seinen Erzählungen über das Camp in Belarus stimmen mit anderen Informationen überein, die das Team bereits gesammelt hatte.
Kämpfer dachten, Putsch sei "militärische Übung"
"Keiner der Kämpfer von Wagner wird Ihnen ein Foto des Vertrages schicken", sagt Avram gegenüber Zerkalo. Das liege daran, dass keiner der Söldner ein Telefon hat, mit dem er Fotos machen oder Informationen verschicken könnte. Nachdem sie unter Vertrag genommen werden, so Avram, seien ihnen die Papiere und Pässe abgenommen und in einem Büro verwahrt worden. Auch Handys hätten sie nicht behalten dürfen. "Als ich zum Stützpunkt in Molkino (Russland) kam, gab ich das Telefon ab und bekam es erst im August zurück, als ich aus Belarus zurückgekehrt bin."
Avram, der eigenen Angaben zufolge 37 Jahre alt ist und aus Moskau kommt, wurde vier Tage nach Vertragsunterzeichnung in die Ukraine nach Luhansk geschickt. Kurz darauf kam es dann zum Aufstand Prigoschins - oder die "Kampagne", wie Avram es im Gespräch nennt. Er selbst habe am Aufstand aber nicht teilgenommen. "Wir dachten, es sei eine Art militärische Übung. Ich habe nicht einmal verstanden, was da vor sich ging", behauptet er im Interview. Als alles vorbei war, seien die Kämpfer an seinem Standort gewarnt worden, dass bald alle von ihnen aus der Ukraine nach Belarus verlegt würden. "Etwa am 20. Juli" seien sie dort angekommen.
In einem "Konvoi mit Fahnen" seien sie zunächst durch Russland gefahren. "Wir wurden herzlich verabschiedet", erzählt Avram. "Die Menschen freuten sich, fuhren auf uns zu, winkten und filmten mit Kameras." Als sie dann die Grenze zu Belarus überquert hätten, habe niemand Fahnen geschwenkt oder gewunken. "Um ehrlich zu sein, waren die Leute dort meiner Meinung nach ein wenig verwirrt über das, was passierte." Die meisten Autos hätten allerdings Nummernschilder des Luhansker Militärs gehabt, sodass manche erraten konnten, wer sie sind und woher sie kamen.
Das sind "vernünftige Menschen"
Im Lager bei Osipovichi angekommen, wurden die Söldner von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin und Dimitri Utkin empfangen. "Sie sagten uns, dass wir hier (in Belarus) herzlich empfangen werden und dass sie (Prigoschin), wenn nötig, bereit seien, zusammen mit jeder Armee für Belarus zu kämpfen", so Avram. Das sei das einzige Mal gewesen, dass er Prigoschin gesehen habe. Nur wenige Wochen später war er tot. Sein Eindruck sei aber durchweg positiv gewesen.
Das Lager, in dem Avram untergebracht war, soll "sehr groß" gewesen sein. Zwischen 5000 und 6000 Menschen sollen sich dort aufgehalten haben, schätzt der Söldner. Viele von ihnen seien "frei" gewesen wie auch Avram selbst - so nennt die Wagner-Gruppe diejenigen, die nicht aus Gefängnissen oder Strafkolonien rekrutiert wurden.
In dem Camp sollen aber auch Ex-Häftlinge gelebt haben. Vor allem die, die in Bachmut gekämpft hätten. "Das sind normale Menschen", sagt Avram über die Kämpfer. "Vernünftig, sozusagen." Vielleicht habe sich in den Köpfen etwas verändert und sie hätten nach dieser ganzen Situation begonnen, das Leben anders zu betrachten, vermutet er. "In Belarus waren sie jedenfalls völlig normal und verhielten sich normal."
"Belarussische Armee muss vorbereitet sein"
Die meiste Zeit habe die Wagner-Gruppe in Belarus damit verbracht, auf einem kleinen Übungsplatz auf dem Gelände der ehemaligen Einheit zu trainieren. Dabei wurden laut Avram weder Ausrüstung noch schwere Waffen verwendet. "Wir lebten in Militärzelten, die Kommunikation mit unseren Angehörigen lief über Stream (eine russische Kommunikations-App, Anm. d. Red.)." Eine andere Form der Kommunikation habe es nicht gegeben.
Im Camp selbst gab es Avram zufolge eine Feldküche, das Essen sei abwechslungsreich gewesen. "Von 6.30 bis 8.00 Uhr frühstückten wir, um 8.45 Uhr sind wir in Stellung gegangen, und ab 9 Uhr waren wir bereits auf dem Übungsplatz." Dort hätten sie trainiert, wie man Stellungen einnimmt, sich unter Artilleriebeschuss verhält und was zu tun ist, wenn "Vögel" (Drohnen) auftauchen.
Avram ist laut eigener Aussage Scharfschütze und habe deswegen eine gesonderte Ausbildung bekommen. Andere Söldner seien auch weggeschickt worden, um belarussische Grenzsoldaten in den Einheiten auszubilden. "Ich hatte keinen Kontakt zu belarussischen Soldaten, aber ich kann sagen, dass die belarussische Armee auf jeden Fall vorbereitet sein muss, denn Belarus hat noch nie mit jemandem Krieg geführt, hatte noch keine Konflikte mit irgendjemandem", so Avram. "Aber man braucht eine starke Armee, und die Kämpfer von Wagner haben nicht nur in der Ukraine viel durchgemacht - sondern waren zum Beispiel auch in Syrien, Libyen, Afrika - von ihnen kann man viel lernen."
Wagner-Einheiten wurden aufgelöst
Laut Wagner ist die belarussische Spezialeinheit der Polizei im Lager der Kämpfer ein - und ausgegangen. Die Söldner selbst durften demnach das Gelände meist nur verlassen, um Lebensmittel zu kaufen. Das bestätigt auch Avram: "Wir gingen in den Laden und unsere gesamte Kommunikation bestand darin, die Verkäuferin nach dem Preis zu fragen und was sonst so los ist, das ist alles." Die Verkäuferinnen hätten mit den Söldnern ruhig, fast herzlich gesprochen, erzählt er. Es habe nichts Negatives gegeben. "Allerdings war es uns untersagt, mit den Einheimischen zu sprechen."
Insgesamt blieb Avram eigenen Angaben zufolge drei Wochen in Belarus und kehrte eines Nachts im August im Konvoi nach Russland zurück, schreibt das Portal Zerkalo in seinem Bericht. "Nicht alle von uns sind gegangen", erzählt Avram. Diejenigen, die in der belarussischen Armee gearbeitet hätten, seien länger in Belarus geblieben. "Als wir abreisten, waren sie noch nicht von ihren Einheiten zurückgekehrt." Die anderen bei Wagner wurden laut Avram "aufgelöst".
Seinen Gehaltscheck habe er noch in Belarus erhalten. Berichte von anderen Söldnern und dessen Angehörigen, die keine Zahlungen erhalten hätten, hängen ihm zufolge mit der Schließung von Banken in Russland und Problemen innerhalb der Wagner-Firma zusammen. Wer den Belarus-Aufenthalt der Kämpfer finanzierte, wisse er aber nicht.
Für das Unternehmen sei es jedoch unrentabel, eine so große Armee zu unterhalten, die nur lebt und übt. "Es stehen etwa 8000 Menschen unter Vertrag, und jedem Kämpfer 150.000 Tausend Rubel (1453 Euro, Anm. d. Red.) pro Monat zu zahlen, ist meiner Meinung nach zu viel", sagt Avram. Diejenigen, die sich bereit erklärt hätten, nach Afrika zu gehen, befänden sich höchstwahrscheinlich noch in Belarus und würden auf ihre Abreise ins Ausland vorbereitet. "Höchstwahrscheinlich wird die Militäreinheit, in die wir gebracht wurden, ein Rekrutierungspunkt für die Gruppe sein - Russen und Weißrussen, wer auch immer möchte."
Am Abend des 7. September hätten Angehörigen der Söldner im Chat die Nachricht erhalten, dass die Rekrutierung bei Wagner vorübergehend pausiert. Die Stimmung seiner Kollegen, die er aus sozialen Medien mitbekommt, beschreibt Avram als "aufgebracht". Er selbst habe darauf nicht reagiert, aber jetzt stehe er vor einem beruflichen Problem. Das Lager in Belarus soll wohl ebenfalls abgebaut werden. Das legen zumindest Satellitenbilder nahe, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurden. Die Anzahl der Zelte hat sich seit Juli drastisch reduziert.
Das Interview wurde von Journalisten des unabhängigen belarussischen Nachrichtenportals Zerkalo geführt. Mit Genehmigung der Redaktion erscheint der Inhalt nun auf Deutsch bei ntv.de.
Quelle: ntv.de