
Die beiden Regierungschefs können in Krisen zusammenarbeiten - Freunde sind sie allerdings nicht.
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Heute kommt es zu den ersten ranghohen Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland - unter Vermittlung der Türkei. Deren Präsident Erdogan pflegt Beziehungen zu allen Seiten, zu Moskau, Kiew und der NATO. Doch der Umgang mit dem russischen Staatschef Putin ist heikel für Erdogan.
Die Türkei ist in der Zwickmühle. Mit jeder Unterstützung oder Nicht-Unterstützung der Ukraine, mit jedem Einmischen oder Nicht-Einmischen in den Angriffskrieg Russlands stößt Ankara einen wichtigen Partner vor den Kopf. So pflegt die Türkei weiterhin sowohl nach Moskau als auch nach Kiew gute Beziehungen. Als NATO-Mitglied wäre sie im Bündnisfall außerdem dem Westen verpflichtet. Für Präsident Recep Tayyip Erdogan gilt es also, sich zu positionieren, ohne eine Verbindung dieses Dreieckgespanns zu verlieren. Auf dem Spiel stehen allerdings nicht nur gute Beziehungen - vielmehr geht es darum, eine wirtschaftliche Katastrophe im eigenen Land zu verhindern und die eigenen Grenzen zu schützen.
"Der Krieg in der Ukraine ist für Ankara zur Bedrohung der eigenen Sicherheit geworden, weil die Türkei sich im Zangengriff Russlands sieht", erklärt Rasim Marz im Gespräch mit ntv.de. Russische Truppen kommen ihr bereits im Süden von Syrien nahe und nun, durch den Krim-Stützpunkt Sewastopol, auch vom Schwarzen Meer im Norden. Marz ist Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei. Er sagt: "Für die Türkei wäre es der Worst Case, wenn das Schwarze Meer nach dem Krieg zu russischem Gewässer wird." Denn jede russische Südausdehnung mache das Land traditionell nervös - seit über einem Jahrhundert.
Das Trauma durch den Untergang des Osmanischen Reiches und die ständige Bedrohung durch das Zarenreich seien immer noch präsent. Ende der 1880er Jahre "standen russische Truppen gerade einmal 30 Kilometer vor Istanbul und waren kurz davor, die Hauptstadt einzunehmen", erinnert Marz. "Das können die Türken nicht vergessen." Im Prinzip sei die Türkei in einer ähnlichen Lage wie die baltischen Staaten. "Man will um jeden Preis verhindern, einer direkten Aggression Russlands ausgesetzt zu sein."
Lieferung von Kampfdrohnen an die Ukraine
Ankara möchte Moskau nicht reizen, mit der Eskalation des Krieges wurde Erdogans anfängliche Zurückhaltung jedoch immer schwerer durchzuhalten. So bezog er nach anfänglichem Zögern ein paar Tage nach Kriegsbeginn schließlich doch Stellung und schloss das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg die türkischen Meerengen an den Dardanellen und am Bosporus für ausländische Kriegsschiffe. Während Ankara den einzigen Zugang zum Schwarzen Meer, in dem auch russische Kriegshäfen liegen, blockiert, versucht es den Spagat zu halten. So beeilte sich der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu zu versichern, dass sich die Blockade nicht speziell gegen Russland richte, es werde lediglich internationales Recht, der Vertrag von Montreux, umgesetzt.
Weitaus mehr als die Schließung der Meerengen dürften die türkischen Lieferungen von Kampfdrohnen an die Ukraine das türkisch-russische Verhältnis belasten. Im Netz wird die Drohne des türkischen Herstellers Bayraktar als Wunderwaffe gefeiert - zahlreiche Videos von vermeintlich erfolgreichen Drohneneinsätzen gegen russische Konvois oder Versorgungslaster werden verbreitet. Auch die ukrainische Botschaft in der Türkei postet solche Videos auf Twitter und lobt die Waffe mit den Worten "Mashalla Bayraktar TB2". Sein Land habe von diesen Drohnen profitiert, betont auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Unabhängig belegen lassen sich die Einsätze nicht.
Sicher ist allerdings, dass die Ukraine die türkischen Kampfdrohnen besitzt. Sie kamen schon vor dem Angriffskrieg im Kampf gegen russische Separatisten in der Ostukraine zum Einsatz, weshalb Putin Erdogan bereits verwarnte. Erdogan wies die Drohungen zurück und verteidigte die Lieferungen, die auch nach Beginn des Kriegs fortgesetzt wurden. "Neue Bayraktars sind bereits in der Ukraine angekommen und in Dienst gestellt worden", schrieb Verteidigungsminister Oleksii Reznikov am Dienstag nach Kriegsbeginn bei Facebook.
Krim hat "historische Bedeutung" für Ankara
Die Türkei fühle sich der Ukraine verpflichtet, da sie als Schwarzmeer-Nachbar zu einem wichtigen Partner in der Umgebung geworden ist, sagt der Türkei-Experte Marz. "Gerade nach der Annexion der Krim ist das Handelsvolumen zwischen den Ländern angestiegen." Letztes Jahr belief es sich auf mehr als fünf Milliarden Dollar. Wenige Wochen vor dem Krieg unterzeichneten Erdogan und Selenskyj ein Freihandelsabkommen, und auch die Rüstungszusammenarbeit sollte gestärkt werden. Zudem ist die Türkei der größte ausländische Investor in der Ukraine.
"Die gute Handelsbeziehung zur Ukraine ist auch davon getrieben, dass man in Ankara ein europäisches Nicht-Mitglied der EU auf seiner Seite haben will", erklärt Marz. Es wäre eine Möglichkeit, eine starke wirtschaftliche Verbindung nach Europa aufzubauen. Wegen der Sanktionen, die die EU gegen die Türkei verhängt hat, war dies in der Vergangenheit schwierig. Neben den wirtschaftlichen Interessen "darf man die historische Bedeutung der Ukraine und der Krim in diesem Konflikt nicht vergessen", sagt Marz. "Über 300 Jahre war die Krim Teil des Osmanischen Reiches und sicherte ihm so die Vormachtstellung im Schwarzen Meer." Auch für die Minderheit der Krimtataren, die in der Ukraine leben, fühle sich Ankara in der Verantwortung.
So forderte Erdogan Putin schon während des Konfliktes auf der Krim auf, für ein friedliches Zusammenleben von Ukrainern, Russen und Tataren zu sorgen. Nach der Annexion verurteilte er das Vorgehen Moskaus zwar, trug die Wirtschaftssanktionen des Westens aber nicht mit. Ähnlich ist es heute: Der türkische Staatschef verurteilt den Angriffskrieg Russlands, beteiligt sich jedoch nicht an Sanktionen und hat "auch nicht die Absicht, das zu tun", wie Außenminister Cavusoglu im türkischen Fernsehen deutlich machte.
Wirtschaftlich abhängig von Moskau
Für die Türkei selbst stünde wirtschaftlich zu viel auf dem Spiel: Ähnlich wie Deutschland bezieht sie 44 Prozent ihres Gas und Öls aus Russland. Zwei Drittel aller Weizenlieferungen kommen von dem Handelspartner im Osten, und der russische Staatskonzern "Rosatom" baut das erste Atomkraftwerk in der Türkei. Dass auf türkischen Flughäfen weiterhin russische Airlines abheben und landen, dürfte auch daran liegen, dass Russland eine wichtige Rolle für die türkische Tourismusbranche spielt: Russen waren im vergangenen Jahr die größte Gruppe ausländischer Urlauber im Land. Verschlechtern sich die Handelsbeziehungen nach Moskau, würde die türkische Wirtschaft dies mit aller Härte spüren - und dies, wo sie ohnehin von einer Währungskrise gebeutelt ist.
Was also tun? Schon aus eigenen Interessen liegt Ankara viel daran, den Konflikt möglichst bald zu entschärfen. Bereits vor dem Krieg hatte sich Erdogan deshalb als Vermittler ins Spiel gebracht. Vor einem Telefonat zwischen ihm und Putin am vergangenen Wochenende sprach Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin erneut von Ankara als einem "neutralen Vermittler" im Ukraine-Konflikt. Nachdem der Westen "die Brücken abgebrannt hat", müsse ein anderer mit Russland sprechen. "Es ist wichtig, dass Moskau einen Ansprechpartner hat, dem es vertraut", sagte er.
Tatsächlich ist die Türkei eines der wenigen NATO-Mitglieder, die sowohl gute Beziehungen nach Moskau als auch nach Kiew unterhalten. Ankara und Moskau haben mehr gemein als die reine Handelsbeziehung. Trotz heftiger Kritik der NATO-Partner kaufte die Türkei ein russisches Flugabwehrsystem. "Auch die Kritik am Westen verbindet die Staaten", sagt Marz. "Staatspräsident Erdogan hat den europäischen Staatsführern immer wieder vorgeworfen, im Ukraine-Konflikt nicht mit einheitlicher Stimme gesprochen zu haben." Die Schwäche wolle der Präsident nun ausnutzen, um sich als Vermittler zu etablieren. Einen Teilerfolg konnte er dabei schon verbuchen. Die Außenminister Russlands und der Ukraine kommen am Donnerstag für Gespräche in der Türkei zusammen. Das Treffen von Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba werde am Rande einer Konferenz in Antalya stattfinden, erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu auf Twitter.
"Ankara ist nicht ebenbürtig"
Viel erwarten sollte man von diesem Treffen jedoch nicht, sagt Frank Sauer im Gespräch mit ntv.de. "Ich glaube, dass Russland weiterhin auf seiner Maximalforderung beharren wird." Da Russland "im Prinzip die totale Selbstaufgabe" verlange und die Ukraine sich dagegen wehrt, bleiben die Verhandlungen festgefahren, so der Experte von der Universität der Bundeswehr in München. Dass nun ausgerechnet der türkische Präsident viel daran ändern kann, glaubt auch der Türkei-Experte Marz nicht. So sieht die Türkei "Russland zwar als Erbe einer ebenbürtigen Großmacht und in der Lage als Vermittler größere Erfolge als die EU zu erzielen". Allerdings gelte das keinesfalls andersherum. "Moskau sieht die Türkei nicht als ebenbürtig an", erklärt der Historiker. Während sie sich als Weltmacht aus Sowjetzeiten sehe, "ist die Türkei in ihren Augen nur eine Regionalmacht".
Außerdem dürfe man die Beziehung zwischen Staatspräsident Erdogan und Präsident Putin nicht überwerten, mahnt der Experte. "Aus türkischer Sicht gibt es keine Freundschaft mit Moskau." Marz erinnert an die Zwischenfälle der vergangenen Jahre, als beispielsweise die Türkei an ihrer Grenze zu Syrien einen russischen Kampfjet abschoss und Moskau mit harten Sanktionen reagierte, bis Erdogan sich öffentlich entschuldigte. "Die Beziehung zwischen den beiden Staatschefs ist eine gemeinsame Absteckung von Interessen", sagt Marz. Um Konflikte zu vermeiden, wurden die Machtverhältnisse auch in Syrien und Libyen, wo Russland und die Türkei unterschiedliche Konfliktparteien unterstützt haben, klar abgegrenzt. Man könne die Verbindung als "krisenfeste Arbeitsbeziehung" beschreiben, sagt der Experte. Trotz allem, so betont er, "sieht die Türkei Russland immer noch als historischen Gegner".
Selbst wenn die Vermittlungsversuche im Ukraine-Krieg ins Leere führen, könnte Erdogan mit ihnen allerdings noch andere Interessen verfolgen. "Die Türkei strebt durch die Vermittlerrolle auch eine engere Einbindung innerhalb der NATO an", sagt Marz. Sie wolle das Vertrauen der Bündnispartner, das in den letzten Jahren eingebüßt wurde, zurückgewinnen. Bei all den Interessen, die die Türkei in diesem Konflikt verfolge, sei dies das wichtigste - "gerade jetzt, wo sie den Konflikt vor der Tür hat".
Quelle: ntv.de